Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: ++++ (die umfangreichen Texte und das Libretto leider nur auf französisch, englisch und spanisch)
OPER OHNE HANDLUNG!?
Oper (fast) ohne Handlung - kann das funktionieren? Ehrlich gesagt: Die meisten Opern kommen mit wenig oder gar keiner Handlung aus. Zumindest äußerer Handlung. Action. Was vielmehr benötigt wird, ist ein Setting, das möglichst viele Stimmungen und Gefühle freisetzt. Wenige Außenreize genügen, um musikalisch einen Rausch der Affekte auszulösen und die Figuren - bzw. den Zuschauer/Hörer - in emotionalen Taumel zu stürzen. Stets ist es die Musik, die mit ihrer ganz eigenen Sprache ungleich mehr auszudrücken vermag, als die Worte des Librettos.
KEIN PROBLEM!
Joseph Bodin de Boismortier macht aus der Not der Nicht-Handlung in seiner Pastoral-Oper von 1747 eine wahre Tugend. Da dürfen sich die Hauptfiguren, der flötenspielende Hirt Daphnis und seine geliebte Chloé, drei Akte lang schmerzvoll vermissen, sehnsuchtsvoll anschmachten und sich schließlich, nach geringfügigen Irritationen wieder glücklich vereint, ungestört ihrer Liebe hingeben. Das dauert, inklusive Prolog, immer noch erstaunliche 100 Minuten, was nicht zuletzt den unverzichtbaren Arietten, Tanzeinlagen, instrumentalen Zwischenspielen und dramatisch wirkungsvollen Chören geschuldet ist. Es sind diese Zutaten, die Atmosphäre, Emotionen und Farben in das Geschehen bringen und den welken Galanterien und stereotypen Konflikten Leben einhauchen.
Und jene Hörer, die sich auf diesen zarten Rokokotraum einlassen mögen, verzaubern. Boismortier weiß genau, was er dem Stoff schuldet. Wer den überdrehten Witz und das rasante Tempo erwartet, mit denen er in der Komödie Don Quichotte chez la Duchesse (Naxos 8.553647, ebenfalls unter Niquet) auftrumpfte, dürfte enttäuscht werden. Daphnis et Chloé überzeugt, weil der Komponist die Konventionen der bukolischen Gattung nicht nur völlig erst nimmt, sondern - wie im Fall der Komödie - geradezu übererfüllt. Das kann man unoriginell und kleinmeisterlich nennen. Oder schlicht langweilig finden. Oder dem Vielschreiber Boismortier anlasten, dessen gewaltiger monatlicher Ausstoß eine fließbandartige Produktion erforderlich machte. Keine Experimente bitte, zumindest nicht solche, die dem Publikumsgeschmack zuwiderlaufen. Und trotzdem! Musikalisch bis ins Detail ausgetüftelt, schafft Boismortier um das Liebepaar einen musikalischen Rokokogarten, eine schwerelose Idylle, die in den du
tigsten Pastellfarben blüht. Das ist so etwas wie die Geburt des Impressionismus aus dem Geist des Rokoko.
NICHT ZULETZT WEGEN DER INTERPRETEN!
Hervé Niquet sorgt mit seinem perfekt singenden und musizierenden Ensemble dafür, dass auch der heutige Hörer diesen Traum aus Arkadien mitträumen kann. Er nimmt die Konventionen ebenso ernst, wie der Komponist, dessen Partitur so subtil ausgelotet wird, dass jedes Detail den schwebenden, duftigen Gesamteindruck verstärkt. Insbesondere die Holzbläser mit ihren betörenden Flöten und orgelnden Fagotten, illuminieren die Schäferidylle auf das Schönste, tönen elysisch oder auch mal rustikal. Gaelle Méchally als Chloé haucht und flötet sich wahrlich nymphenhaft durch ihre Partie, sekundiert von dem leichten Tenor des Francoise-Nicolas Geslot als Daphnis. Mit gleicher Delikatesse agieren auch die übrigen Solisten und der Chor. Den Tontechnikern ist das Kunststück gelungen, den vokalen und instrumentalen Stimmen klare Konturen zu verleihen und sie zugleich in eine wunderbar weichzeichnende Akustik zu hüllen.
Für Fans der französichen Barockoper jenseits von Lully und Rameau.
16 Punkte
Georg Henkel
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