Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: +++++ (wie immer bei Alpha: schön gemachtes Booklet mit vorzüglichen Essays)
Mysterium - das hat für aufgeklärte Ohren einen eigentümlichen Klang. Da denkt man an Geheimnisvolles, Unergründliches, Verrätseltes, Unerklärliches, Irrationales, Esoterisches. Das klingt nach Fantasy, Groschenroman, Terra-X, Atlantis und Buffy. Oder auch nach Religion. Aber nach Musik?
MEDITATIVES BAROCKES RÄTSELSPIEL
Der Titel von Heinrich Ignaz Franz Bibers Mysterien Sonaten ist doppeldeutig: Er bezieht sich sowohl auf den äußeren Anlass bzw. das Thema der Komposition wie auch auf die Musik selbst. Das Werk besteht aus 16 umfangreichen Sonaten für Violine und Basso continuo und repräsentiert in jeder Hinsicht einen Gipfelpunkt barock-virtuoser Violinkunst. Diese Sonaten verbinden Präludien, Allemanden, Sarabanden, Arien, Ciaconnen u. a. Tänze zu weiträumigen 'Suiten in einem Satz'.
Biber, selbst ein Meister auf der Violine, präsentiert hier ein regelrechtes Kaleidoskop spieltechnischer Raffinessen auf der Höhe seiner Zeit. Zudem manipuliert sein Instrument durch die sogenannte Scordatura, also eine Umstimmung des Instruments, und zwar für jede einzelne Sonate! Das dient nicht nur der klanglichen Optimierung, sondern dahinter verbirgt sich eines der 'Mysterien' dieser Komposition. Denn notiert ist die Musik in allen Fällen so, als sei die Stimmung nicht verändert worden. Die Folge: Der Spieler greift, wie er es gewohnt ist, hört aber etwas ganz anderes. Biber hat seine Musik gewissermaßen codiert, erst im Erklingen offenbart sich die wirkliche Musik. Da kann eine hoch notierte Note auch schon mal tiefer tönen als eine tief notierte - die Musik steht sozusagen auf dem Kopf.
Was aber ist das Thema Musik? Biber, der ab 1670 in den Diensten des Salzburger Erzbischofs Maximilian Gandolph von Khuenburg stand, widmete seinem Herrn diesen Zyklus, den er, so das Vorwort, den heiligen fünfzehn Geheimnissen des Rosenkranzes geweiht habe. Die 16. Sonate ist eine Passacaglia für unbegleitete Solo-Violine. Obschon es kein ausgeschriebenes Programm gibt, zeigen kleine Vignetten das Thema jeder Sonate an. Biber bezieht sich dabei auf jene Glaubensgeheimnisse, die traditionell während des Rosenkranzgebetes mit seinen scheinbar endlos wiederholten Ave-Maria- und Vater-unser-Gebeten meditiert werden. Es gibt fünf "Freudenreiche Geheimnisse" wie die Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist, seine Geburt oder die Aufopferung im Tempel. Die fünf "Schmerzhaften Geheimnisse" thematisieren die Passion Jesu: Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung ... und der "Glorreiche Rosenkranz" bedenkt Ereignisse wie die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu. Das besagte Solo-Stück hat mit den
Rosenkranzmysterien dagegen unmittelbar nichts zu tun und ist dem Schutzengel geweiht.
Wie Biber diese 15 Geheimnisse in seiner Musik anklingen läßt, darüber streiten sich seit der Wiederentdeckung dieses Werkes am Ende des 19. Jahrhunderts die Gelehrten. Alles Mögliche hat man bemüht: die barocke Figurenlehre (Biber habe die Ereignisse in Tönen 'gemalt', z. B. die Schläge, mit denen die Nägel durch Jesu Hände und Füße getrieben werden) oder auch die beliebte Zahlensymbolik. Geheime Botschaften will man so in den Noten ausgemacht haben. Doch ein letzter Schlüssel, der aller erklären könnte, fehlt. Abgesehen von einer bei Gelegenheit eingestreuten Choralmelodie gibt es keine Indizien dafür, das irgendetwas in den Noten steckt, das es so nicht auch in anderen Sonaten Bibers gäbe oder das eine nicht-musikalische Funktion und Bedeutung hätte. Wollte er seinem Dienstherrn schließlich doch nur etwas Unterhaltung beim drögen Rosenkranzgebet bieten ...?
VON DEN INTERPRETEN ENTSCHLÜSSELT!?
Wie auch immer: Musikalisch ist die Sammlung von hohem Reiz. Manche Effekte wie die flirrenden Kaskaden über alle Saiten scheinen als "Klangfarbenmusik" sogar schon auf die Musik des 20. Jahrhunderts vorauszuweisen, anderes erinnert an archaische Volksweisen, höfischen Tanz, Zigeunermusik oder eben auch an Choralmelodien - Biber schöpfte seine Inspiration offenbar aus zahlreichen Quellen.
Es bedarf allerdings inspirierter Interpreten, um diese Vielschichtigkeit in all ihrer Schönheit zur Geltung zu bringen, insbesondere bei einer Gesamteinspielung. Bibers Rosenkranzsonaten sind auf dem Markt in einigen hervorragenden Aufnahmen vertreten. Diese Neuproduktion des Labels Alpha kann es problemlos mit ihnen aufnehmen. Gerade die letzte Sonate für Violine solo offenbart die besonderen Qualitäten: Das Spiel von Alice Píerot vereinigt bemerkenswerte Virtuosität mit Sensibiliät. Auf der Basis einer stupenden Technik kann sie sich ganz der 'musikalischen Spiritualität' der Passacaglia widmen, die hier weder zur solistischen Selbstdarstellung noch zur frommen Etüde gerät. Die Musik tanzt und 'spricht'.
In den übrigen Sätzen ist der Silberklang ihrer Violine, den sie bis in himmlische Höhen hinaufzutreiben und zum Glühen zu bringen vermag, wunderbar in den Klangraum eingebettet, den ihre drei Begleiter/innen auf ihren Continuo-Instrumenten erzeugen. Dank der unerschöpflichen Phantasie des Ensembles kann sich der Hörer ohne Ermüdungserscheinungen in diese fasznierende Musik versenken. Insbesondere der reizvolle Mischklang mit der Gambe und/oder dem Claviorganum (eine Kreuzung aus Cembalo und Orgel) sorgt für stets neue 'Beleuchtungswechsel'. Dazu kommt eine sehr nunacierte Ausdruckspalette, die von zartem, sanglichem Spiel über beredte Deklamtation bis zur erruptiven Attacke reicht. Und schließlich: ein vorzüglicher Klang, körperlich und intensiv. Wieder einmal erweist sich die Kapelle des Hospitals Notres-Dame de Bon Secours als der perfekte Raum für solche Musik.
Uneingeschränkt empfehlenswert.
18 Punkte
Georg Henkel
|