Musik an sich


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ZWÖLFTONMUSIK FÜR EINEN ENGEL
Alban Berg (1885-1935): Konzert für Violine und Orchester (rev. 1996)
und: Passacaglia (1913), Lulu-Suite

Capriccio CD DDD (AD LIVE 2001) / Best. Nr. 67 061
Moderne / Instrumental
Cover
Interpreten:
Vladimir Spivakov (Violine)
Gürzenich-Orchester Kölner Philharmonie
Ltg. James Conlon

Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: ++++


DEM ANDENKEN EINES ENGELS

Manon Gropius, die Tochter von Alma Mahler und dem Bauhaus-Architekten Walter Gropius, muss ein faszinierendes Kind gewesen sein, dass ihre Umwelt geradezu verzauberte. Als sie mit nur 18 Jahren an Kinderlähmung starb, war das für den Komponisten Alban Berg der entscheidende Anstoß für die Komposition seines einzigen Violinkonzertes, dessen Titel "Dem Andenken eines Engels" zugleich die Widmung an die Frühverstorbene ist. Für Berg, der kurz darauf an einer Blutvergiftung starb, wurde das Werk zu seinem Schwanengesang.

BERG, DER ROMANTIKER

Berg gelingt hier die Synthese von spätromatischer, ausdrucksvoller Klangsinnlichkeit und der Rigidität avancierter Zwölftontechnik. Das Ergebnis fasziniert nicht zuletzt deshalb, weil die moderne Musiksprache Bergs "Ohrenmusik" bleibt und sich dem Hörer trotz der nicht-tonalen Faktur unmittelbar erschließt. Weil die Zwölftonreihe des Konzerts auf Dreiklängen aufbaut, ergeben sich immer wieder Anklänge an die Welt der Tonalität, die auch in Zitaten aus einem Volkslied und Bachchoral noch einmal hereinweht. Da die Zwölftonmusik aber nicht dem tonalen Spannung-Entspannungs-Schema folgt, gewissermaßen richtungslos ist, bleibt das musikalische Geschehen in steter Schwebung und Latenz. So können die in Musik gefaßten Stimmungen jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen. Das ist musikalische Romantik ohne romantisches Pathos, aber erfüllt mit den Sehnsüchten, Abgründen und der Poesie der Romantik.

DURCH STETE METAMORPHOSEN HINDURCH

Die Violine - die hier Manon Gropius repräsentiert - hält den zweiteiligen Bau des rund halbstündigen Konzerts zusammen: für den Hörer ein roter Faden in Bergs mäandernden Klangwelten. Das Orchester schafft gewissermaßen einen Klang-Raum um die Solo-Stimme, die sich durch diesen Raum hindurch bewegt, dabei steten Metamorphosen unterworfen ist, von Episode zu Episode und von (Lebens)Station zu (Lebens)Station sich bewegend: mal versonnen, mal eilend, mal verstört, mal kurzes Glück genießend, dann wieder von den umgebenden Klängen bedroht, bis sie schließlich, durch die finale (tödliche) Katastrophe hindurch, verklärt und endlich entrückt wird.
Im Prinzipt gilt dieser Eindruck steter Verwandlung auch für die beiden anderen Stücke dieser Aufnahme: die Passacaglia von 1913 (ein von Christian von Boerris ergänztes Fragment) und die sinfonische Lulu-Suite aus der gleichnamigen Oper. Eine Fülle von "Musiken" wird hier zu einer großen, übergeordneten Einheit zusammengfügt, deren Architektur sich dem Hörer freilich nicht mehr unmittelbar erschließt. Es bleibt der Eindruck des Momenthaften, Fließenden, Fragementarischen.

SENSIBLE INTERPRETATIONEN

Daher bedarf es einer Interpretation, die den großen Bogen nicht aus dem Blick verliert und das Heterogene und Amorphe der Musik nicht zu bloßem Stückwerk zerfallen läßt. Und nicht zuletzt der Sinnlichkeit und Ausdrucksfülle der Musik Rechnung trägt.
Mit flexiblen, lyrischem Ton geleitet in diesem Fall Vladimir Spivakovs durch die Klangräume und -landschaften des Konzerts. Sein Spiel ist von unaufdringlicher Virtuosität und bringt vor allem - was allerdings auch Bergs Musik geschuldet ist - die zarten, zerbrechlichen und spröden Momente der Musik berückend heraus. Dem korrespondiert das sensible, farblich sehr schön nuancierte Spiel des Gürzenich-Orchester unter der Leitung von James Conlon. Klanglich ist dieser Live-Mitschnitt ebenso wie bei den beiden anderen Stücken bestens gelungen. Passacaglia und der Lulu-Suite müssen jedoch ohne einen "primus inter pares" auskommen - deshalb wird vom Hörer auch einiges mehr verlangt, will er "in" der Musik bleiben und nicht hinauskatapultiert werden. Conlon und seine Musiker breiten auch hier ein fein gewobenen Klangteppich aus, der den romantischen Expressionismus Bergs erstaunlich "impressionistisch" erscheinen läßt: Musik der Zeitenwende. Wer die Musik der "Zweiten Wiener Schule" (Berg - Schönberg - Webern) bislang mit greller und dissonanter Kakophonie gleichgesetzt hat, dürfte angesichts dieser Klangkultur eine Überraschung erleben ...

15 Punkte

Georg Henkel

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