Es gehört mitlerweile zum guten Ton eines jeden Festivals, mit einem exklusiven Artist in Residence aufzuwarten, der das Programm dann mehrfach bereichert. Das Musikfest Bremen gönnt sich und seinem Publikum in diesem Jahr gleich zwei von dieser Sorte: Marc Minkowski und Anne Sofie von Otter. Der französische Dirigent und die schwedische Mezzosopranistin haben schon wiederholt sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Und so verstand es sich fast von selbst, dass sie auch beim Musikfest einen gemeinsamen Abend geben würden. Minkowskis "Hausorchester", die fabelhaften Musiciens du Louvre, steuerten dazu den instrumentalen Part bei.
Als wir uns in die endlose Schlange der Wartenden einreihten - der Einlass hatte sich wohl aus organisatorischen Gründen verzögert - bestätigte sich einmal mehr: Ins Konzert geht man erst ab 50. Oder besser noch ab 60. Nur die Leute mit Pressekarten waren in unserem Alter. Ach, und natürlich die Musiker. Die werden ja immer jünger, die Zuhörer dagegen immer älter. Klassik hin, Klassik her: Am Programm kanns nicht allein liegen. Wahrscheinlich will niemand mit Mami oder Papi (oder Opi und Omi?) bei gleichen "Event" gesehen werden.
Das Programm, das in der wunderschönen, backsteingotischen Architektur der Kirche "Unsere Liebe Frau" seinen angemessen intimen Rahmen fand, vereinigte Komponisten und Werke, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Zwischen Johann Sebastian Bachs entsagungsvoller Kantate Nr. 170, einer Suite mit Instrumenalsätzen und Tänzen aus Opern Jean-Philippe-Rameaus, sowie den drei Arien aus Händelopern taten sich musikalische Welten auf - und dies, obwohl die drei Komponisten doch Altersgenossen waren und in ihrem Genre gewissermaßen den Höhpunkt spätbarocker Musik repräsentieren.
BAROCKE WELTVERNEINUNG: BACHS KANTATE NR. 170
Bachs Kantate Vergnügte Ruh', beliebte Seelenlust führte den Hörer zu Beginn tief hinein in die relgiöse Welt von Pietismus und lutherischer Orthodoxie. Angesichts der - für heutige Ohren! - Zumutungen des barocken Textes wäre es ein leichtes gewesen, einfach die herrlich sinnliche Musik in den Vordergrund zu stellen und alle Provokationen unter einer weihevollen Klang-Aura zu verbergen, zumindest aber "fromme Diskretion" walten zu lassen.
Doch nichts davon - oder besser: fast nichts davon. Minkowski und seine Musiciens du Louvre sorgten nämlich durchaus für eine weiche, dunkel-romantische Grundierung mit satten Instrumentalfarben, die nun nichts mehr von jenem mitunter anämisch schlanken Klang der frühen historischen Aufführungspraxis hatte.
Anne Sofie von Otter bot dann freilich auf dieser Basis eine rhetorisch zugespitzte Darbiertung, die zum Orchesterklang in einen faszinierenden, manchmal auch irritierenden Kontrast trat. Insbesondere im Rezitativ waren die Wirkungen teilweise bestürzend: "Die Welt, das Sündenhaus, Bricht nur in Höllenlieder aus Und suchts durch Hass und Neid Des Satans Bild an sich zu tragen. Ihr Mund ist voller Ottergift, Der oft die Unschuld tödlich trifft, Und will allein von Rache sagen." Die Welt - ein Abbild des Teufels! Man denke sich beim Lesen bitte dicke Betonungsstriche unter "Sündenhaus", "Höllenlieder", "Hass", "Neid" etc. - von Otter akzentuierte und färbte jedes Wort anders und sorgte für eine unerhört affektive Aufladung des Textes. Die Kantate gipfelt in der letzten Arie im schärfsten Ausdruck von Weltverneinung: "Mir ekelt, mehr zu leben, Drum nimm mich, Jesu, hin!" Nicht nur Bachs geradezu beschwingt-triumphierende Musik, auch von Otters energiegeladene Interpretation sorgte dafür, dass diese Botschaft nicht zur rhetorischen Floskel geriet. Allerdings zeigte sich gerade in den Arien, dass solch eine poiniterte Gestaltung die Musik auch überspannen kann. Dann drohte der große Bogen in lauter ausdrucksvolle Einzelmomente zu zerfallen. Dennoch: Insgesamt eine gelungene Gratwanderung, die als Livedarbietung für ein bewegendes Hörerlebnis sorgte.
BAROCKE LEBENSLUST: RAMEAUS L'APOTHÉOSE DE LA DANSE UND HÄNDELS OPERN-ARIEN
Jean-Philippe Rameau dürfte nach wie vor zu den zu Unrecht unterschätzen Komponisten des Barock gehören. Und das trotz einer stetig wachsenden Zahl an Einspielungen seiner Werke, die den Gipfelpunkt der französischen Barockoper nach Jean-Baptiste Lully markieren, dem legitimen Vater der französischen Barockmusik. Wie originell, raffiniert, aufregend, vital und schlicht mitreißend Rameaus Musik ist, demonstrierten Les Musiciens du Louvre mit einer Art "Best-Of"-Suite aus diversen Tänzen und Instrumentalsätzen Rameauscher Opern: nach den pessimistischen Tönen der Kantate geradezu ein festliches, barockes Plädoyer für Sinnlichkeit und Lebensfreude.
Gleich der Einstieg, die Ouvertüre aus der "heroischen Pastorale" Zais, offenbarte das ganze Genie des Komponisten. Die Musik will die Entstehung der Elemente aus dem Urchaos darstellen, beginnt dazu überraschend mit zerklüfteten Trommelschlägen, gefolgt von fragmentarischen Streicher- und Bläsereinwürfen und steigert sich schließlich zu einer ebenso rasanten wie brillanten Parforcejagt. Solche packenden, ja avancierten Einfälle gab es noch häufiger zu bestaunen: eine Sturmmusik aus der Kommödie Platée fegte durchs ganze Orchester, ekstatisch und exotisch zugleich stampfte der "Tanz der Wilden" aus Les Indes Galantes, ebenso unheimlich wie witzig verschwand der "Contredanse" aus Les Boreades im Pianissimo-Nichts. Spätestens da hätte man im Publikum die berühmte Stecknadel fallen hören können. Überhaupt sorgte das Ensemble durch feinste dynamische und instrumentale Schattierungen für einen wahren Farbenrausch, den man bei barocker Musik so wohl nicht vermutet hätte.
Marc Minkowski agierte hier in seiner unvergleichlich dynamischen Art: weniger den Takt schlagend, als die Musik mit den Armen zeigend, wobei er tanzend, hüfpend und singend völlig in der Musik aufzugehen schien. Diesen Stil könnte man maniriert finden, käme es nicht so völlig natürlich rüber. Zumal sich seine Aktion sichtbar auf das engagierte Orchester übertrug, dem man weniger die Anstrengung, als den Spaß an der Musik ansah.
Kein Wunder also, das spätestens hier der Funke übersprang und das Publikum zunehmend die steife Konzertetikette fallen ließ. Als der "Tanz der Wilden" als dritte Zugabe noch einmal wiederholt wurde, klatschte man allseits mit. Minkowski dirigierte belustigt das Publikum, verbeugte sich schließlich mit seinen Musikern. Sollte dieses "Air des sauvages" gar zum neuen Hit der Neujahrskonzerte taugen?
Auf eine Aufnahme mit der noch um einige Stücke erweiterten Rameau-Suite, die wohl im kommenden Jahr bei Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon erscheinen wird, darf man sich also freuen ...
Anne Sofie von Otter beendete den Abend mit zwei (inkl. Zugabe: drei) Arien von Georg Friedrich Händel. "Scherza infida" und "Doppo notte" aus seiner Oper Ariodante stammen aus einer gemeinsamen Produktion, mit der Minkowski und von Otter bereits 1998 für Furore sorgten. "Scherza infida", dieser ergreifende Ausdruck eines bis in seine tiefste Seele tödlich getroffenen Menschen, geriet der Sängerin dann auch zum emotionalen Höhepunkt des Abends. Gegenüber der CD-Produktion schien der Ausdruck sogar noch einmal gesteigert - wenn dies überhaupt möglich ist. Stimmlich in guter Verfassung, brannte sie dagegen in "Doppo notte" ein virtuoses Feuerwerk ab. Mit "Ombar maí fu", diesem unverwüstlichen Händel-Hit aus "Xerse", gab es dann noch eine "Händel-Suprise" (Minkowski).
Standing Ovations.
Georg Henkel / Sven Kerkhoff
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