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Musik an sich
 
Marc-Antoine Charpentier (1662-1704): Drei Aufnahmen mit geistlichen Werken
1. Te Deum
2. Messe de Monsieur de Mauroy
3. Lecons de Ténèbres (1692) - Cinq Méditations pour le Caréme
(Glossa) bereits erschienen
Barock Vokal
Cover Cover CoverCover
 

Le Concert Spirituel, Hervé Niquet

Gleich drei Einzel-CDs mit geistlichen Werken widmen Hervé Niquet und sein Concert Spirituel dem Schöpfer der ‚Eurovisionsfanfare': dem französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier. Mit dieser Tour de force setzt das Ensemble seine bei Naxos begonnene Reihe mit Einspielungen Charpentiers auf dem spanischen Label Glossa fort (www.concertspirituel.com). Alle drei Aufnahmen kennzeichnet - neben den interpretatorischen Qualitäten - eine große Sorgfalt bei der Programmzusammenstellung und Präsentation.

Das berühmte Eurovisons-Logo mit seinem charakteristischen Tam-taa-tamtada-tam-taadaa steht als festlicher Auftakt am Anfang von Charpentiers Te Deums. Niquet bietet Charpentiers ‚Hit' vollständig in einer mitreißenden Interpretation, die durch die ‚swingenden' Rhythmen an manchen Stellen die Synkopen des Jazz vorwegzunehmen scheint. Von diesen ‚notes inégales' (= ungleichwertigen Noten) steht zwar nichts in der originalen Komposition - aber die französischen Musiker im 17. Jahrhundert wußten natürlich, wann und wie sie auszuführen waren. Weil Niquet hier den jüngsten Forschungsstand berücksichtigen konnte, übertrifft er in dieser Hinsicht sogar noch die Einspielung von William Christie und Les Arts Florissants (1989), an dessen vorzügliche, klangschöne Solisten Niquets Sänger allerdings nicht ganz heranreichen. Überdies zeichnen sich die Einspielungen Christies durch einen ruhigen Atem und eine Homogenität aus, die von anderen Interpreten nur selten erreicht wird - die Frucht jahrelanger konzentrierter Arbeit mit einem eingespielten Ensemble.

Hervé Niquet und seine Musiker haben sich seit ihren Anfängen bei Naxos in den 90er Jahren diesbezüglich kontinuierlich gesteigert; die Einspielung von Joseph Bodin de Boismortiers (1689-1755) flotter und komischer Kurzoper ‚Don Quichotte chez la Duchesse' war schon ein kleiner Geniestreich und garantiert eine Stunde lang ungetrübtes Hörvergnügen. Man darf also auf die weitere Entwicklung gespannt sein (eine neue große Boismortier-Oper soll bei Glossa in der Weihnachtszeit erscheinen!).

In der aktuellen Produktion sorgen die rhythmischen Finessen und rasanten Tempi auf jeden Fall dafür, dass hier nichts nach angestaubter, steifer Zeremonialmusik klingt. Passend zum Te Deum findet sich auf der CD noch eine Auswahl von drei Motetten Charpentiers in Ersteinspielung, die das religiöse Herrscherlob nach dem Motto "Wie im Himmel, so auf Erden" variieren. Das ‚Dixit Dominus', die Mottete über den Ludwig XI. (den Heiligen) und das ‚Domine Salvum Fac Regem' erfahren eine delikate Interpretation und profitieren dem brillanten und zugleich transparenten Klangbild.

Auch die beiden anderen Aufnahmen bestechen - abgesehen vielleicht von den mitunter etwas quäkig-nasalen hohen Tenören und Härten im Sopran - durch ihr hohes musikalisches Niveau:

Die großdimensionierte ‚Messe de Monsieur de Mauroy' gewinnt ihre Wirkung vor allem durch eine farbige Instrumental-Besetzung. Niquets läßt das Werk mit nur acht Sängern aufführen, die sowohl Chor als auch Solopartien übernehmen. Dank einer luxuriösen Aufnahmetechnik und der Akustik in der Abteikirche St.-Michel en Thiérache glaubt man jedoch ein wesentlich größeres Ensemble zu hören. Klangfülle und Durchsichtigkeit ergänzen sich dabei ideal. Charpentiers reiche Musik erfährt eine höchst elegante Formulierung, die den Kontrapunkten bis in die letzten Verästelungen nachspürt. Dem Hörer wird jedoch auch einiges an Konzentration abverlangt, weil die Interpretation auf Effekte verzichtet - selbst dort, wo es dazu durchaus Gelegenheit gegeben hätte: Niquet setzt bei den einzelnen Mess-Sätzen aber weniger auf dramatische Kontraste, als auf eine feinsinnige Differenzierung. Höhepunkte der Aufnahme sind die Improvisationen für Solo-Orgel. Michel Chapuis läßt die kraftvollen, obertonreichen Register des barocken Instruments in einen wirkungsvollen und notwendigen Kontrast zu Niquets subtil verinnerlichter Auffassung der auskomponierten Abschnitte treten (besonders bei Nr. 7 produziert der ‚röhrige', archaische Klang der Orgel eine Gänsehaut).

Von gänzlich anderem Charakter sind die ‚Lecons des Ténèbres' (Version von 1692) bzw. die Fünf Meditationen für die Karwoche. Als eine Art musikalisches Theater in der Kirche waren Werke dieser Art im 17. und 18. Jahrhundert höchst populär. Die Menschen strömten in die Gotteshäuser, um die Meditationen zur Passion Christi in den ‚Einkleidungen' berühmter Komponisten zu hören. Dass dabei nicht selten der musikalische Effekt - und überhaupt der große Auftritt! - wichtiger wurde, als die religiöse Funktion der Stücke, provozierte bei Zeitgenossen harsche Kritik:

"Welch ein Spektakel! Es ist nichts Ungewöhnliches mehr, im Chorgestühl oder im Lettner der Kirche fünf oder sechs kreischende Figuren zu beobachten, die, auf verschiedenste Art herausgeputzt wie authentische Komödianten und bis zur Taille gepudert, den Kopf unablässig nach allen Seiten drehen, Schnupftabak nehmen, lachen, plaudern und Fratzen schneiden."

Wohl auch um zu verhindern, daß die Musiker aus den gesungenen Lesungen Bravourarien machten und die Gelegenheit zu eleganten Ausschweifungen nutzten, wählte Charpentier für seine späten Lecons und die Méditations einen bewußt verhaltenen, strengen und mitunter düsteren Ton (nur Männerstimmen), der auch von den beteiligten Flötenstimmen lediglich schattiert, nicht wirklich aufgehellt wird. Virtuosität oder sängerische Selbstdarstellung treten wieder hinter die ursprüngliche liturgische Bedeutung der Werke zurück. Niquet unterläuft diese Konzeption in so weit, als er seine sechs Sänger einen durchaus ‚theatralischen' Ton anschlagen läßt, der den dramatischen und affektvollen Charakter der zugrundeliegenden Texte akzentuiert. Die Faszination, die diese Werke für die Zeitgenossen in ihrer Spannung zwischen Sinnlichkeit und Leidensmystik gehabt haben müssen, wird damit auch für moderne Ohren nachvollziehbar.

Der kammermusikalische Charakter der Messe und den Lecons mag denjenigen Hörern, die einen großen Ton und rasante Musik erwarten, etwas zu eintönig sein. Denen sei das Te Deum empfohlen. Und wem auch das nicht ausreicht: Im nächsten Jahr plant Le Concert Spirituel eine Aufnahme von Händels Feuerwerksmusik und Wassermusik in einer ‚Originalbesetzung' von über hundert Musikern ...

Was die drei Aufnahmen über die genannten Qualitäten hinaus auszeichnet, sind die graphisch sehr geschmackvoll und doch modern gestalteten Cover sowie die sorgfältig edierten, illustrierten Booklets. Trotz der edlen Präsentation gilt aber insbesondere für die beiden ersten Aufnahmen: Nicht nur für Liebhaber!

17 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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