Wimps and Posers, leave the hall: Der in Leipzig gezeigte Film Lords Of Chaos über die Bandkarriere von Mayhem stellt sich als unerwartet humoristisch heraus
Die älteren Leser werden sich noch erinnern, dass die Entwicklung des True Norwegian Black Metal in den Frühneunzigern mit einer Anzahl geräuschvoller „Nebenerscheinungen“ außermusikalischer, um genau zu sein krimineller Art einherging, was dazu führte, dass diverse Protagonisten teils längere Zeit hinter schwedische Gardinen wanderten, während der selbsternannte Szeneanführer Øystein „Euronymous“ Aarseth 1993 sein Lebenslicht ausgehaucht bekam. Die Geschehnisse dieser Zeit faßten Michael Moynihan und Didrik Söderlind im 1998 auf Englisch erschienenen, seit 2002 auch in Deutsch vorliegenden Sachbuch Lords Of Chaos zusammen und versuchten sich zugleich an einer kulturhistorischen Einordnung dieses Phänomens, die sie allerdings nur anzureißen in der Lage waren, so dass viele Fragen offen blieben. Wer sich für meine zeitnahe Meinung zum Buch interessiert, findet diese unter www.crossover-netzwerk.de/buchMoynihan02.htm zusammengefaßt; eine anno 2005 erschienene erweiterte Fassung steht bisher nicht im hiesigen Bücherschrank. Selbiges Buch ist nun anno 2015/16 unter gleichem Titel verfilmt worden, und der 2018 zunächst in der englischen Originalfassung auf dem Sundance Film Festival in Utah uraufgeführte Streifen kommt in der seit Anfang 2019 vorliegenden deutschen Synchronfassung an einem anfangs noch milden, aber dann doch recht kühl werdenden Augustabend auf dem Dach der Leipziger Moritzbastei im Rahmen von deren Sommerkinoprogramm zur Aufführung, bei freiem Eintritt übrigens. Die Reihen sind nicht voll besetzt, aber doch recht gut gefüllt, und einige Anwesende haben sich gar den Spaß gemacht, stilecht in Corpsepaint aufzulaufen. Das Stichwort Spaß soll noch eine ungeahnte Rolle spielen: Die True-Ultraböse-Fraktion, die zum Lachen in den Keller geht, ist an diesem Abend offensichtlich nicht anwesend oder gibt sich zumindest nicht als solche zu erkennen. Statt dessen herrscht erstmal eine gewisse Spannung, wie man denn ein Sachbuch dieser Art verfilmen kann. Dieses Rätsel löst sich schnell: Die Drehbuchautoren Dennis Magnusson und Jonas Åkerlund, welchletzterer auch Regie führte, haben alle Nebenschauplätze und die kulturhistorischen Einordnungsversuche von vornherein weggelassen und verfilmen kurzerhand die letzten Jahre von Euronymous‘ Leben, beginnend mit der Bandgründung von Mayhem in den Mittachtzigern, nachdem ein paar Teenager nicht verstanden hatten, dass Venom keine „echten“, sondern reine Marketingsatanisten waren, und endend mit der Ermordung Euronymous‘ am 10.08.1993 durch Christian „Varg“ Vikernes aka Grishnackh im Streit um die Führungsrolle im True Norwegian Black Metal, um Geld und um eine reizende Blondine, nachdem schon zuvor deutlich geworden war, dass das naive Landei Vikernes die großstadterfahrenen Osloer Vorbilder (aus deren Sicht war jeder Nicht-Osloer ein Landei) in puncto Radikalität noch einmal zu übertreffen zu müssen glaubte, woraus dann sowohl die ersten Kirchenbrandstiftungen als auch Vikernes‘ Hinwendung zum Nationalsozialismus resultierten. Generell versucht der Film durchaus zwischen einigen etwas spinnerten, aber harmlosen Teenagern und den radikalen Auswüchsen, wie sie in Vikernes verkörpert waren, zu differenzieren, zieht die Trennlinie dabei aber etwas zu deutlich: Zu Mördern wurden außer Vikernes und dem gleichfalls im Film thematisierten Bard „Faust“ Eithun schließlich auch noch andere Protagonisten des sogenannten Inner Circle, auch wenn dieser letztlich kleiner war, als Außenstehende das vermutet hätten, und die Netzwerkarbeit damals auch noch nicht mittels Facebook, sondern auf dem klassischen Postweg stattfand – köstlich die als Running Gag wiederkehrenden Szenen, wenn Euronymous auf einer pinkfarbigen Schreibmaschine Mayhem-Promoschreiben tippt. Der Mayhem-Bandkopf selbst wird ambivalent gezeichnet – einerseits liefen tatsächlich viele Fäden bei ihm zusammen, sei es ideentechnisch in der Frühzeit oder dann später in seinem Plattenladen „Helvete“ oder seinem Label Deathlike Silence Productions, andererseits aber stellt ihn der Film als gnadenlose Großklappe dar, der sich auch nicht scheut, „Verdienste“ anderer als seine eigenen darzustellen oder zumindest ideengeschichtlich auf sein eigenes Schaffen zurückzuführen. Letzteres bildete einen der zentralen Konfliktpunkte mit Vikernes, dessen Entwicklung vom harmlosen Landei zum Nazi und Mörder einen zentralen Strang des Streifens bildet, selbst wenn die Unsicherheit, mit der er agiert, noch in der langen Vorschlußszene, der Fahrt von Bergen nach Oslo zur Ermordung von Euronymous, deutlich wird. Mit welcher Liebe zum Detail die Macher des Streifens zu Werke gingen, zeigt sich beispielsweise darin, dass auch die seltsame Marotte Euronymous‘, kommunistisch-totalitäre Regimes zu verherrlichen (schon Matthias Herr hat treffend bemerkt, dass der Gitarrist das nicht getan hätte, wäre er in einem jener Länder aufgewachsen und hätte dort als unangepaßter individualistischer Rebell entsprechende Erfahrungen mit der Staatsmacht gesammelt), unauffällig ihren Niederschlag findet: An der Wand über seinem Schreibtisch hängt ein Bild von Erich Honecker ... Damit kommt nun wieder der Spaßfaktor ins Spiel: Keine Ahnung, ob der humoristische Unterton vor allem in der ersten Hälfte des Films, aber auch noch in den Off-Kommentaren Euronymous‘, die erst nach seiner Ermordung mit einem Schlußwort, wo er das Publikum als „Poser“ anredet, die kein Mitleid mit ihm haben sollen, zumal er ein neues Genre begründet habe und damit in die Geschichte eingegangen sei, enden, in diesem Ausmaß gewollt war oder ob er eher unfreiwillig in diese Richtung tendiert – aber in dieser Form hätte das der Rezensent nun ganz und gar nicht erwartet. Okay, die Verstrahltheit der Teenager noch etwas auf die Spitze zu treiben war nicht weiter schwer, und wenn Vikernes bei seinem ersten Oslo-Besuch wegen seines Scorpions-Aufnähers auf der Kutte gemobbt wird, obwohl, wie sich später herausstellt, Euronymous in seinem Laden auch Scorpions-Platten verkauft, spricht auch das für die feine Beobachtungsgabe der Drehbuchautoren, ebenso wie die köstliche Szene, als in der großen Metallerrunde Vikernes den schwedischen Death Metal disst und biertrinkende und Morbid-Angel-Shirts tragende Metaller als Poser abtut, obwohl, wie er Sekunden später bemerkt, ebensolche in der Runde sitzen. Solche Szenen, in der ersten Filmhälfte häufiger vertreten als in der zweiten, sorgen für kollektives Gelächter im Auditorium, und generell ist der Unterhaltungswert des Streifens für ein metallisch erfahrenes Publikum enorm hoch, während der Betrachter, dem sich dieser Zugang nicht erschließt, eher fragen wird, ob die beiden Mordszenen (Faust an einem Homosexuellen in Lillehammer und eben Vikernes an Aarseth) wirklich so detailliert ausgespielt werden mußten – und die Selbstverstümmelungen des dritten Mayhem-Sängers Per „Dead“ Ohlin sparen auch nicht mit drastischen Bildern. Trotzdem: Irgendwie überwiegt der Komikfaktor, und man schüttelt über die Naivität gewisser Positionen eher den Kopf, als sie richtig „böse“ zu finden. Dass es auch zwischenzeitlich weitere Personen wie Vikernes gab und noch heute gibt, die in ihrer Radikalität über die Vorgänger hinausgehen zu müssen glauben, steht auf einem anderen Blatt, und auch Ohlins Suizid hat Nacheiferer gefunden, etwa Jon Nödtveit und Selim Lemouchi, um nur die bekanntesten zu nennen. Andererseits sind diverse Protagonisten in der nominell von ihnen verdammten Gesellschaft doch recht weit nach oben gestiegen, wenn wir uns beispielsweise Wagner Antichrist von den brasilianischen Sarcofago (auch Gründungsmitglied von Sepultura übrigens) anschauen, der heute als Wirtschaftsprofessor an einer Universität lehrt. True Norwegian Black Metal gibt es rein musikalisch auch heute noch, Kirchen niederzubrennen hält aber mittlerweile niemand mehr für nötig (selbst Vikernes nicht, der mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen wurde, unter verändertem Namen in Frankreich lebt und andere, freilich nicht weniger seltsame Kommunikationskanäle bedient), und 25 Jahre Abstand zum Geschehen machen den Film distanzierter und zugleich zugänglicher, als man das vorher hätte vermuten können. So besitzen die knapp zwei Stunden überraschend hohen Unterhaltungswert, während ihr dokumentarischer Wert trotz aller Liebe zum Detail und dem Fakt, dass man sich szeneintern heftig über die Authentizität so manches Details streitet, Schwankungen unterliegt. Dass Regisseur Åkerlund freilich vom Fach ist, steht außer Frage – immerhin hat er die ersten beiden Songs, die Bathory veröffentlicht haben, als Schlagzeuger eingespielt (die beiden Samplerbeiträge für Scandinavian Metal Attack), steht also grundsätzlich im Stoff, was ihm diverse Kritikaster mit dem Hinweis auf die von ihm gedrehten Videos für unblackmetallische Acts wie Rammstein, The Prodigy oder Madonna gern absprechen möchten. Interessanterweise spielt Arion Csihar hier die Rolle seines Vaters Attila, der bekanntlich das Mayhem-Debütalbum De Mysteriis Dom Sathanas als Gast eingesungen hatte. Dass Åkerlund die Rolle des Nazis Vikernes ausgerechnet mit einem jüdischen Schauspieler besetzt (Emory Cohen gehört zu den Ashkenasim, also den osteuropäischen Juden, seine Familie ist allerdings schon in vierter Generation in den USA ansässig) und Vikernes damit nachhaltig erzürnt hat, verleiht dem ironischen Faktor allerdings den Punkt aufs i. Trotzdem oder gerade deshalb muß man final aber nochmal festhalten: Lords Of Chaos ist ein Spielfilm. Wer einen Dokumentarfilm zum frühen norwegischen Black Metal sehen will, ist mit dem 2008 gedrehten Until The Light Takes Us besser bedient, und wer eine 1:1-Verfilmung des Buches erwartet hat, wird mit dem Ergebnis vielleicht auch nicht glücklich sein. Dafür besitzt der Film Lords Of Chaos in seiner vorliegenden Form eben andere Qualitäten. Einen Soundtrack in üblicher Form gibt es allerdings nicht: Der Streifen enthält lediglich einige angespielte Songschnipsel, wo in der Handlung Livegigs, Studioaufnahmen, Partys (da läuft u.a. Accepts „Fast As A Shark“!) und ähnliche Elemente vorkommen. Roland Ludwig |
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