Musik an sich


Reviews
Campra, A. (Niquet)

Le Carnaval de Venise


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 25.08.2011

(Glossa / Note 1 / 2 CD / DDD / 2011 / Best. Nr. GCD 921622)

Gesamtspielzeit: 129:01



OHRENSCHMAUS

Einfach großartig, was André Campra 1699 mit seiner Ballett-Oper Le Carnaval de Venise gelungen ist: Abseits der höfischen Oper etablierte er mit dieser Mixtur aus französischem Musikdrama und italienischer Oper eine ausgesprochen erfolgreiche neue Gattung. Diese zeichnete sich nicht nur durch musikalische Grenzüberschreitungen aus, sondern auch durch inhaltliche. Statt wie sonst blaublütige Superhelden in mythische Abenteuer zu verstricken, versetzte Campra mit Hilfe seines Librettisten Jean-François Regnard einfach vier ganz „normale“ französische Liebende zur Karnevalssaison in die Serenissima, auf dass sie dort im bunten Treiben nach allerlei amourösen Wirren ihr Glück finden.
Die eifersüchtigen Streitereien, denen zwischenzeitlich leider auch ein Unbeteiligter zum Opfer fällt, gestatten dem Komponisten zwar, das ganze erprobte Tragödien-Vokabular à la Lully & Co. anzubringen. Doch unter der Oberfläche entfalten sich ein bislang unerhörter musikalischer Reichtum und eine neue Leichtigkeit. Beides treibt in den zahlreichen, breit ausgemalten Divertissements die schönsten Blüten.

Campra scheut sich nicht, sich vom Melodiesinn und den Formen der italienischen Musik inspirieren zu lassen, überholt dabei aber die sich zu einem reinen Arienkonzert entwickelnde italienische Oper durch die viel reicheren Möglichkeiten der französischen Oper. Der temporeiche Wechsel zwischen ausdrucksstarken Rezitativen, Arien, Ensembles sowie üppig ausstaffierten Chören und Tänzen ist ein Ohrenschmaus. Ein Spiel im Spiel präsentiert gar einen kompletten Akt aus einer italienischen Oper (natürlich von Campra persönlich im italienischen Stil komponiert – da klingt seine Musik manchmal wie in den römischen Kantaten Händels!).
Noch sind die Stile nicht wirklich vereinigt – was dem Ganzen aber nicht zum Nachteil gereicht. Man ahnt, was möglich gewesen wäre, wenn in Frankreich die Musik nicht ständig von den verschiedenen ästhetischen, philosophischen und politischen Fraktionen auf dem Schlachtfeld ihrer Auseinandersetzungen geopfert worden wäre.

Dass Campras Spektakel heute nicht nur wieder auf der Bühne zu erleben ist, sondern überdies die Zuhörer begeistert, verdankt sich der mitreißenden Neueinspielung durch Le Concert Spirituel unter Hervé Niquet. Niquet kitzelt die melodischen und klangfarblichen Reize aufs Schönste heraus und schlägt einen großen Spannungsbogen über die Musik. Man könnte die drei Akte bis zum finalen Ball einfach durchtanzen. So vergehen die rund 130 Minuten wie im Fluge. Auch seine barockerprobte SängerInnenschar hält der Dirigent zum engagierten dramatischen Ausdruck an – vorbei sind die Zeiten, als in der Alten Musik um das Vibrato ein großer Bogen gemacht wurde. Das Klangbild ist wohl auch wegen des tiefen Stimmtons oder der Akustik des Aufnahmeortes ein wenig matt. Dem Vergnügen an dieser Ausgrabung tut das aber keinen Abbruch.



Georg Henkel



Trackliste
CD 1
Ouvertüre - Prolog - 1. & 2. Akt 70:14

CD 2
3. Akt - Orfeo Nell'Inferni - Le Bal, Dernier Divertissement 58:47
Besetzung

Salomé Haller: Isabelle
Marina de Liso: Léonore
Andrew Foster-Williams: Rodolphe
Edwin Crossley-Mercer: Léandre
Anders J. Dahlin: Orphée
Sarah Tynan: Euridice
Isabelle Druet: Minerve / La Fortune
Luigi de Donato: Le Carnaval / Pluton

Les Chantres du CMBV
Le Concert Spirituel

Hervé Niquet: Leitung



 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>