Musik an sich


Reviews
Otte, H. (Woodward)

Stundenbuch


Info
Musikrichtung: Neue Musik Klavier

VÖ: 01.06.2007

Celestial Harmonies / Naxos
CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. 13259-2


Gesamtspielzeit: 57:06



PIANISTISCHE PHILOSOPHIE

Man könne das Stundenbuch von Hans Otte nicht üben, sondern müsse es erst studieren und dann spielen, denn es sei ein philosophisches Werk. So der Pianist Roger Woodward, der wenige Monate nach der Wiederveröffentlichung von Ottes eigener Version bei Celestial Harmonies eine neue Fassung vorlegt.
An Ottes häufig nur minutenlangen klingenden Zen-Mobiles kann man verschiedene vertraute Momente entdecken: Eric Saties Lakonie, seriellen Pointilismus à la Pierre Boulez, John Cages Absichtslosigkeit, die hypersensible Klangästhetik Morton Feldmans. Vieles wirkt auch wie eine abstrakte Anspielung auf Musik von Claude Debussy, selbst an Olivier Messiaen muss man einmal denken (die versteinerten Volgelrufe in Nr. 33!). Jeder wird gewiss neue Anspielungen erkennen, die vielleicht nur in der eigenen Imagination existieren.
Otte selbst spricht von lebenden Organismen, die sich ständig verwandeln. Nicht die hierarchisch streng geordnete, zielgerichtete Verarbeitung eines Materials, sondern das in jedem Augenblick gleich gegenwärtige, poetisch freie Spiel der musikalischen Kräfte war für ihn leitend. Das Bestimmt-Unbestimmte, das viele Stücke prägt, ist bereits in ihrer Komposition angelegt. Das Schreiten von Moment zu Moment folgt keiner berechenbaren Entwicklung, sondern wirkt wie intuitiv, vom Gehör her gefunden: Es gilt die Logik des Klanges, nicht die der Struktur. Eine musikalische Evolution, entstanden aus dem Dialog des Komponisten mit seinen Klängen. Dennoch klingt diese Musik bei aller stimmungsvollen Schönheit weder beliebig noch plump gefällig, sondern unterscheidbar und spannend.

Jeder Interpret ist gefordert, diesen organischen Hörprozess nachzuvollziehen, um den Klängen beim Spiel den notwenigen Raum zum resonanzreichen Atmen und Ausschwingen zu lassen. Es gibt daher keine strengen Angaben zu Metrum, Zeit und Dauer, wohl aber eine sehr präzise Skala mit 18 dynamischen Stufen, für die Otte die herkömmliche Notation um neue Zeichen ergänzt hat.
Roger Woodward benötigt für den Zyklus rund 8 Minuten länger als Otte. Das Klangbild ist insgesamt weicher, der Anschlag verhaltener, so dass die Klänge oft „wie aus der Ferne“ herübertönen. Otte artikuliert dagegen trockener, kantiger. Dafür treten bei Woodward die schärfer dynamisierten Stücke wie Inseln aus den eher impressionistischen Klanganmutungen heraus; auch schlägt er hier meist ein schnelleres Tempo an, was den Kontrast weiter vertieft.
Aufs Ganze bietet Otte die nüchternere, um nicht zu sagen sachlichere Interpretation. Woodward setzt mehr auf die opaken Klang- und Farbspiele des Flügels, geht im Pianissimo bis an die Hörgrenze und liefert damit insgesamt die „romantischere“, vielleicht auch stärker esoterische Version ab. Spannend ist der Vergleich allemal, zumal man gerade hier hören kann, wie wesentlich die Wirkung auch von Neuer Musik von ihren Interpreten abhängt.



Georg Henkel



Besetzung

Roger Woodward, Klavier


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