Musik an sich


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TRAGIKOMISCHER ABGESANG: HÄNDELS LETZTE OPER
Georg Friederich Händel (1685-1759): Deidamia (1741)

Virgin Veritas DDD 3 CD (AD 2002) / Best.Nr. 7243 5 45550 2 2
Barock / Oper
Cover
Interpreten:
Simone Kermes (Deidamia) - Dominique Labelle (Nerea) - Anna Maria Panzarella (Achill) - Anna Bonitatibus (Odysseus) - Furio Zanasi (Phönix) - Antonio Abete (Licomedes)
Il Complesso Barocco
Alan Curtis

Interpretation: ++++
Klang: +++++
Edition:+++++

BAROCK RULES!

Überblickt man die Veröffentlichungspolitk der Klassiklabel, so fällt trotz Krisenlamento und reduzierter Neuproduktionen die relativ hohe Zahl von barocken Opern auf, die gerade in der letzten Zeit auf den Markt gekommen sind. Quantitativ und auch qualitativ haben sie sich unüberhörbar als gewichtiger Beitrag zur Gattung neben dem Standard-Repertoire zwischen Mozart und Wagner platzieren können. Und wenn man sich so die letzten Verdi-Produktionen anhört, dann versteht man auch, warum das so ist: Gegenwärtig gibt es einfach kaum genügend Sängerinnen und vor allem Sänger, die die Oper des 19. Jahrhunderts technisch oder stimmlich wirklich befriedigend wiederbeleben können.
Für das barocke Repertoire sieht es da viel erfreulicher aus. Dank versierter Spezialisten wie René Jacobs, Mark Minkowski oder William Christie, die nicht nur junge, begabte Kräfte, sondern inzwischen auch neugierige "Stars" aus dem Repertoirebereich um sich versammeln können, boomt das 17. und 18. Jahrhundert inzwischen wie kaum eine andere Epoche in Konzertsaal und Aufnahmestudio.
Eine anderer Grund für die Verschiebung hin zur Barockoper ist eher mentalitiätsgeschichtlicher Art: Diese "abstraktere" Musik scheint unserem gegenwärtigen Lebensgefühl mehr zu entsprechen, als der pathetische Psychologismus von Verdi und Wagner. Damit sei nichts gegen deren Musik gesagt! Aber die Rezeptionsgeschichte verläuft offenbar in Kurven. Alles hat seine Zeit. Und der Appetit auf Neues, Unverbrauchtes ist dann wohl doch größer, als das Interesse an der zehnten drittklassigen Troubadour-Produktion.

HÄNDEL AUCH!

Lange Vorrede, kurzer Sinn: Fast zeitgleich mit Marc Minkowskis aufregender Einspielung von Händels Giulio Caesare ist ein bislang unterrepräsentiertes Spätwerk aus dem reichen Opernschaffen des britannisierten Sachsen erschienen: Deidamia.
Hier handelt es sich um die ultimative Oper Händels - und damit den letzten Versuch, gegen Adelsintrigen, Publikumsermüdung und Geschmackswandel "seine" Gattung, in der er fast vierzig Jahre produktiv und erfolgreich gewesen war, durchzusetzten: die italienische ernste Oper, die Opera seria.
Es half nichts: Nach nur zwei Aufführungen wurde das Werk abgesetzt, Händel verlegte sich im folgenden auf die Komposition von Oratorien. Dieser Gattung verdankte er nicht nur zu Lebzeiten, sondern vor allem nach seinem Tod seinen bis heute währenden Ruhm. Den Messias kennt jeder. Aber Deidamia? Ist das eine neue Hautcreme?

DEN INTERPETEN SEI DANK!

Um so wunderbarer, dass sich der Barockspezialist Alan Curtis an der Spitze eines hervorragenden Orchesters und ebensolcher Sänger/innen dieser späten, fast vergessenen Perle erfolgreich angenommen hat. Eindrucksvoll stellen diese Musiker unter Beweis, dass viele Wege zu lebendigen Wiedergaben von Händels Opern führen.

Aber worum geht es hier? Deidamia ist, was das Libretto und die formale Gestaltung angeht, typisch für Händels spätes Opernschaffen: Musikalisch treten neben die traditionelle, verzierte Da-Capo-Arie knappere, dramatisch vorwärtsdrängende Formen wie die Cavatina. Der Ton der Musik ist leichter als z. B. im Cesare. Denn deutlicher als in früheren Werken bricht sich im ernsten Stoff Ironie und distanzierte Komik Bahn. Deidamia gibt sich sozusagen semi-seria, also "halb-ernst".
Der "männliche" Held, Achill, ist als Mädchen verkleidet unter den Töchtern des alternden Königs Lekomedes großgeworden. Grund: Ein Orakel hat seinen Tod auf dem Schlachtfeld prophezeit. Um ihn davor zu bewahren, haben ihn seine Eltern in die Obhut des Lekomedes gegeben. Die Maskerade läßt sich aber nicht ewig aufrecht erhalten, zumal Achill sich in eine der Töchter, Deidamia nämlich, verliebt. Alle Weichen scheinen schon auf das unvermeindliche Happy End gestellt, da erscheinen Fremde, um Achill nach Griechenland zurückzubringen. Odysseus, Phönix und Nestor (eine stumme Rolle) benötigen einen starken Krieger für den Krieg um Troja. So beginnt ein Verwirrspiel, bei dem die klassischen Geschlechterrollen schon mal unscharf werden.
Die vermeintlichen Helden aber führt der Librettist auf subtile Weise vor: als Zyniker, die abstrakten Vorstellungen von Ehre nachhängen und für die Nöte anderer wenig übrig haben. Denn vor die Wahl zwischen Schlachtfeld und Ehebett gestellt, entscheidet sich Achill für ersteres. Dass er damit seiner Geliebten Deidamia das Herz bricht, bekümmmert ihn nicht allzu sehr. Man müsse die raschen, vergänglichen Freuden genießen, so lange es eben geht, intoniert da der Schlußchor die Moral von der Geschicht'. Ein zwiespältiges Happy End. Nur das "niedere" Paar, Deidamias Vertraute Nerena und Odysseus' Kollege Phönix, findet sein Glück, weil es sich mit den Verhältnissen arrangiert.

Händel hingegen hat für die Leiden seiner Hauptperson ein offenes Ohr bzw. schenkt ihr, wie so oft, seine inspirierteste Musik. Deidamias Lamento-Arie "Se 'l timore" braucht sich hinter vergleichbaren Stücken aus anderen Händelopern nicht zu verstecken. Dass die Musik heute so bewegend klingt, verdankt sie nicht nur dem sensiblen Spiel von Il Complesso Barocco, sondern auch der intensiven Interpretation von Simone Kermes. Händels Musik braucht Sänger, die den Spagat zwischen verschwenderischer Virtuosität und dramtischem Ausdruck hinbekommen. Die Koloraturen, Rolladen und Triller sind kein dekorativer Selbstzweck, sondern Ausdrucksträger. Hier profilieren sich besonders Dominique Labelle und Anna Bonitatibus. Ihre männlichen Kollegen stehen da nur wenig zurück: Über einen flexiblen, klangschönen Ton gebietet Furio Zanasi ebenso wie Antonio Abete.

Interpretatorisch setzt Alan Curtis ganz andere Akzente als beispielsweise Minkowski oder Jacobs: Der Orchesterklang ist feiner und drahtiger, bei sehr pointiertem Spiel, das die verblüffende "Modernität" mancher Figuren sehr wohl herauszustreichen weiß. Allerdings wird das formale Gerüst der Seria dabei nicht so unter Strom gesetzt wie bei Curtis' Kollegen: Tempi und Dynamik sind weniger den Extremen zugeneigt, die Möglichkeiten sängerischen Ausdrucks und technischen Vermögens werden nicht forciert. Insgesamt wird hier entspannter, aber nicht spannungsarm musiziert. Gegen Minkowski kühnen barocken Verismus und Jacobs Feuer setzt Curtis die Kunst der Stilisierung, der sprechenden Zierfigur. Die dekorative Unverbindlichkeit, die man z. B. bei Nicholas McGegan manchmal zu hören bekommt, gibt es hier allerdings nicht. Zwar mag man die deutlich unterschiedenen Stimmcharaktere von Minkowskis Cesare vermissen. Doch fügen sich Curtis' Sänger zu einem ausgesprochen homogenen Ensemble. In ihrer Eleganz, den wohlabgestimmten Proportionen und der konzentrierten Leichtigkeit führt diese Einspielung Händels "Klassizität" vor Ohren.

16 Punkte

Georg Henkel

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