Musik an sich


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ORNITHOLOGISCHES KALEIDOSKOP
Olivier Messiaen (1908-1992): Catalogue d'oiseaux (1958) und La Fauvette des jardins (1970)

Deutsche Grammophon 3 CD DDD (AD 1993) / Best.Nr. 474 345-2
Neue Musik
Cover
Interpret:
Anatol Ugorski (Klaiver)

Interpretation: +++++
Klang: ++++
Edition: +++

INSPIRATION AUS DER NATUR

Eine zentrale Quelle, aus der der Komponist Olivier Messiaen die Inspirationen für sein umfangreiches musikalisches Werk schöpfte, war die Natur mit ihren vielfältigen irdischen wie himmlischen Erscheinungen, ihren Farben, Bewegungen, dem Wechsel der Tages- und Nachzeiten, den Licht- und Windverhältnissen, ihrem unerschöpflichen Reichtum an Formen, Klängen und Düften.
Inspiration bedeutet hier die Umsetzung von Erscheinungen der natürlichen Umwelt in Klänge und musikalische Ordnung(en). Messiaen lauschte seine Musik sozusagen der Natur ab; in den ›natürlichen‹ Klängen fand er jene musikalische Substanz vor, die er dann in seinen Werken in ›menschliche‹ Musik tranformierte. Die Natur war ihm daher das künstlerische Vorbild, ja der kreative ›Daimon‹ schlechthin, der alle seine musikalische Kunst in nuce enthielt.

DER GESANG DER VÖGEL

"Man kann die Natur verschieden hören. Ich selbst habe eine Leidenschaft für Ornithologie. So wie Bartók Ungarn durchstreifte, um Volkslieder zu sammeln, habe ich lange Jahre die Provinzen von Frankreich durchstreift, um den Gesang der Vögel aufzuschreiben. Das ist eine ungeheure und endlose Arbeit. Aber sie hat mir wieder das Recht gegeben, Musiker zu sein. Welche Freude, einen neuen Gesang, einen neuen Stil, eine neue Landschaft zu entdecken ... Rhythmische Technik, wiedergewonnene Inspiration, dank dem Gesang der Vögel: das ist meine Lebensgeschichte."

Eine hervorragende Stellung in dieser Wertschätzung der Natur nehmen bei Messiaen die Vogelgesänge ein: "Die Vögel sind die größten Musiker, die es auf unserem Planeten gibt." In seiner kurzen "Technik meiner musikalischen Sprache" von 1944 nennt Messiaen sie ausdrücklich "kleine Boten der immateriellen Freude", ein Hinweis auf die theologisch-religiöse Dimension des Vogelgesangs in seinem Schaffen.
1923 zeichnet er während seines Ferienaufenthalts in Aube zum ersten Mal mit Bleistift und Notenpapier Vogelstimmen auf, "zuerst sehr mangelhaft, unfähig, den Namen des Vogels zu bestimmen, der gerade sang" – der Beginn einer umfangreichen ornithologischen Forschungs- und Sammeltätigkeit, die sich in den Kompositionen der 30er und 40er Jahren zunächst gelegentlich niederschlägt, dann aber, vor allem seit 1950, ihren Ausdruck in Werken findet, deren musikalisches Material wesentlich oder sogar ausschließlich aus den von Messiaen notierten Gesängen verschiedener europäischer und außereuropäischer Vögel besteht. Aus hunderten von Vogelgesängen destilliert der Komponist sozusagen den Idealgesang heraus. Allerdings müssen die Gesänge transformiert werden: durch Anpassung an die temperierte Stimmung (Vögel singen in Mirkrointervallen), durch Verlangsamung und Harmonisierung bzw. Instrumentation, um die eigenartigen Klangfarben zu erzeugen. Messiaen bedient sich dafür seines eigenen modalen onsystems und der Ergebnisse seiner rhythmischen Forschungen. Aus der Naturmusik wird Kunstmusik, seine eigene, originelle Sprache.

DER VOGEL-KATALOG

Auf einige Werke für Orchester bzw. Klavier und Orchester folgt 1958 die Uraufführung des in mehreren Jahren entstandenen Vogel-Katalogs: ein Werk, das den Vögeln der Regionen Frankreichs gewidmet ist. Ein halbstündiger Einzelsatz, "Die Gartengrasmücke", kommt 1970 noch ergänzend hinzu. Der Untertitel zeigt an, dass nicht nur einzelne Vögel, sondern auch ihre natürliche Umwelt, also die Landschaft, in der der sie singen, wie auch ihre "Kollegen", die mit ihnen zusammen zu hören sind, musikalisch vorgestellt werden. Das geschieht im Fall des "Teichrohrsängers" (7.) sogar in einem auf 30 Minuten komprimierten Zwölfstundenzyklus von Mitternacht zu Mitternacht. Neben dem Teichrohrsänger, dem ein umfangreiches "Duo concertante" gewidmet ist, treten auf: in den Morgenstunden Amsel, Rotrückenwürger und Gartenrotschwanz, in den Mittagsstunden Fasan, Star, Grünspecht, Rohrammer, Kohlmeise, Bachstelze, Feldschwirl. Nachmittags folgen der Schilfrohrsänger, der Drosselrohsänger (kontrap nktiert vom Quaken eines Frosches), dann das Duo der Teichrohrsänger. Gegen Abend beschließen dann das Blässhuhn, die Feldlerche, Wasserralle, Rohrdommel und um Mitternacht die Nachtigall das Konzert, bevor um drei Uhr in der Früh zum letzten Mal der Teirohrsänger seine Strophen singt.

Dass das ganze Unternehmen nicht in zusammenhangsloses, pittoreskes Gezirpe und Gepiepe zerfällt, sondern überlegt durchkomponierte, dabei ungemein abwechslungsreiche, farbige und atmosphärisch dichte Kunstmusik geworden ist, macht den Reiz dieser Kompositionen aus. Mancher der von Messiaens aufs Klavier gebannten Künstler klingt geradezu jazzig, andere überschlagen sich in virtuosen Girlanden. Und noch aus den "unmusikalischen" Rufen von Bussard und Waldkauz gewinnt Messiaen aufregende, manchmal phantastische Klangwirkungen. Das ist faszinierend, berührend und poetisch. Aber auch fremdartig und fordernd.
Messiaens "eigene" Musik kommt überall da zum Einsatz, wo die Landschaft und Tageszeit geschildert werden: da steigt die Sonne langsam über der Heide auf - und Messiaen schildert das in einer betörend-naiven Schönheit (2. Der Pirol). Da ragen unheimlich bizarre Felsformationen in den Himmel und regen die Phantasie an, die in ihnen "unheimliche Steinmonster" zu erblicken meint - und die Farben und Gestalten der Musik werden berdohlich und phantastisch (10. Der Steinrötel). Die weit kreisenden Bewegungen des Bussards (11.) lassen die Musik dagegen in immer weiteren Bögen ausschwingen.

Anatol Urgorski hat sich diese Musik in einer geradezu nachschöpferischen Weise angeeignet. Die poetischen Tableaus werden bei ihm zu klingenden Landschaften, vogelbevölkerten Miniaturwelten voller überraschender Momente. Die Musik wird mit unglaublicher Virtuosität, mit Gespür für die zarten und leuchtenden Farben, für Geheimnis, Spannung und Dramatik, aber auch mit launigem Witz und nicht zuletzt hörbarer Freude an Messiaens verzauberten pianistischen Gärten zu Gehör gebracht.
Diese Wiederveröffentlichung der DG zum Budget-Preis ist also ein wirklicher Treffer für Messiaenfans. Und nicht weniger für solche, die sich mal auf das Abenteuer zeitgenössische Klaviermusik einlassen möchten. Einziges, aber gravierendes Manko ist das Booklet: Aus Kostengründen wurden die Erläuterungen Messiaens zu den einzelnen Stücken, sozusagen die Programme und unschätzbar hilfreiche Hörhilfen, nur im französischen Original abgedruckt. Das ist sehr bedauerlich, verschließt es doch einen wichtigen Zugang zu dieser Musik. Messiaens Texte sind schon für sich genommen so assoziationsreich und voller sprechender, manchmal regelrecht drastischer poetischer Bilder (so schreit die Wasserralle wie ein "abgestochenes Schwein"!), dass man leicht in seine Musik hineinfindet.

19 Punkte

Georg Henkel

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