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Klang: ++++
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LIGETIS "ZAUBERLEHRLING": ERIKA HAASE
Vergleicht man die erste von György Ligetis Klavieretüden Désordre in den Einspielungen von Erika Haase (1990) und von Idil Biret (Naxos 2002, vogestellt in MAS Nr. 23), dann mag man zunächst kaum glauben, dass es sich um das selbe Stücke handelt. Die ca. 25 Sekunden, um die Erika Haase schneller ist, können es alleine nicht sein. Vielleicht kann man es so sagen: Biret wählt ein langsameres Tempo (das auch die Idealangaben des Komponisten unterläuft), um die Struktur der Musik für den Hörer ein-hörbar zu machen. Mit ihrem glasklaren, ebenso prägnanten wie kühlen Anschlag stellt sie sozusagen den Notentext vor den Ohren des neugierigen Hörers aus. Der Blick in den "Maschinenraum" der Musik offenbart das verwickelte, wild wuchernde Innenleben der Etüde, bei der die rechte Hand allein auf den weißen, die linke hingegen ausschließlich auf den schwarzen Tasten spielt. Polyrhythmik und irreguläre Akzentverschiebungen treten plastisch hervor. So also ist das Stück gemacht!
Hörpsycholgisch geschieht allerdings recht wenig. Bei den Vortragsanweisungen Ligetis, Molto vivace, vigoroso, molto ritmico, legt Biret ihren Schwerpunkt vor allem auf den rhythmischen Aspekt: Insgesamt eine eher analytische Interpretation.
Ganz anders Erika Haase: Sie realisiert sämtliche Anweisungen der Musik: virtuos wirbelnd, athlethisch und kraftvoll, dabei präzise, mit höchst differenziertem Anschlag. Der sinnlichere, weiche Ton, den sie ihrem Instrument entlockt, verleiht der Musik zusätzliche Geschmeidigkeit und Eleganz. Und darauf legt Ligeti großen Wert. Was dabei aber insbesondere frappiert, ist das lustvolle, geradezu rauschhafte Auspielen der Illusionswirkungen, die Ligeti in dieses Stück hineinkomponiert hat. Sind hier zwei, drei oder vier Hände am Werk? Hört man gar zwei Instrumente? Zwei genial ineinander verschachtelte Musiken?
Ich gestehe, dass ich Désordre - und nicht nur dieses Stück - in der Interpretation von Haase immer und immer wieder gehört habe, ohne dass die Faszination nachgelassen hätte. Wie macht die Haase das bloß? Um den Titel der Etüde Nr. 10, Der Zauberlehrling aufzugreifen: Die Pianistin erweist sich hier als begabte Schülerin ihres Meisters Ligeti. Denn sie hat verstanden, dass die bloße Darstellung der kompositorischen Strukturen und die Bewältigung der technischen Probleme allein dieses Stück nicht zum Leben erweckt. Idil Biret bietet gewissermaßen eine Studienversion der ersten Etüde an. Erika Haase macht daraus hingegen einen pianistischen Trip, bei dem erst die Überschreitung bestimmter Grenzen - auch die der vermeintlich korrekten Darstellung sämtlicher Details - die Musik als Musik zu ihrem Recht kommen läßt.
Zwar gelingen Idil Biret in den luzide gespielten langsameren und "abstrakteren" Sätzen durchaus überzeugende Wirkungen, so z. B. in Nr. 5, Arc-en-ciel (Regenbogen). Aber wenn es um die abgründige Emotionalität des Warschauer Herbstes (Nr. 6) oder die Vertrackheiten der Teufelstreppe geht (Nr. 13), ist Haase unbedingt vorzuziehen.
Ein weiteres Plus: Während sich Biret auf die abgeschlossenen Bücher 1 und 2 beschränkt, bietet die aktuelle Einspielung sämtliche Etüden, die Ligeti bis zum Jahr 2001 geschrieben hat, inklusive der ersten vier des noch nicht vollendeten 3. Bandes.
SCHÖPFERISCHES PANORAMA: VOM FRÜH- BIS ZUM SPÄTWERK
Doch damit nicht genug. Auf der ersten CD dieser Edition befindet sich darüber hinaus das pianistische Frühwerk Ligetis bis 1947, das noch stark unter dem Einfluss seiner ungarischen Landsmänner Bartok und Kodaly steht.
Besonders interessant ist die etwas spätere Musica Ricercata (1951-1953). In Ungarn unter dem Diktat des von Stalin verordneten "Sozialistischen Realismus" komponiert (allerdings für die Schublade), ist es der Versuch des noch nicht Dreißigjährigen, ohne unmittelbaren Kontakt zur westlichen Avantgarde in völliger Isolation etwas Neues zu schaffen. Und zwar durch totale Reduktion der Mittel. Das erste Stück basiert auf einem Ton, das zweite auf zwei und dem Sekundintervall usw. Dass das funktioniert, spricht für die Fähigkeiten des Komponisten. Da ist der spätere Ligeti schon manchmal überraschend präsent.
Anders die Werke seiner mittleren Schaffensperiode, die allesamt nach seiner Flucht in den Westen entstanden. Darunter sind das irrwitzige Cembalostück Continuum (1968), das mit mindestens 16 Anschlägen in der Sekunde zu spielen ist (Erika Haase überbietet dies sogar noch!) und die Drei Stücke für zwei Klaviere, gewissermaßen die legitimen Vorfahren der Etüden. In ihrer Geschlossenheit ist diese Gesamteinspielung (in Teilen sind die Aufnahmen schon vorher bei col legno veröffentlicht worden) höchst instruktiv. Dem Hörer werden die Anklänge des jungen im späten Ligeti und umgekehrt kaum entgehen. Ein eindrucksvolles Panorama tut sich auf: Ligetis Weg von der klassischen Moderne zur Avantgarde - und darüber hinaus, "jenseits von Avantgarde und Postmoderne" (Constantin Floros).
Bei den vierhändigen Klavierwerken spielt Carmen Piazzini den zweiten Part. Sie steht Erika Haase dabei in nichts nach - die Verschmelzung der zwei Spielerinnen und Instrumente, beispielsweise in den Drei Stücken, gelingt vollkommen.
20 Punkte
Georg Henkel
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