Interpretation: ++++
Klang: +++++
Edition: ++++
EIN GANZ JUNGER STICHT DIE ALTEN AUS
Mikko Franck, Jahrgang 1979, beweist mit seinem neuesten CD-Projekt Mut - und das Resultat gibt ihm einmal mehr Recht: Nachdem der junge Finne zuletzt eine vielbeachtete CD mit Musik von Sibelius beim Label Ondine vorgelegt hat (ODE 953-2), hat er sich diesmal an eines der schönsten, aber auch anspruchsvollsten Werke der romantischen Orchesterliteratur gewagt: Tschaikowsky sechste Symphonie.
Wer wagt, gewinnt, so ein bekanntes Sprichwort, und Franck gewinnt immerhin 3:1 - nach Sätzen gezählt. Auffallend ist zunächst, dass er für seine Interpretation erheblich mehr Zeit benötigt, als andere Dirigenten. Das ist schon per se erstaunlich in dem derzeit eher zum temporeichen Spiel neigenden Musikbetrieb. Durch die getragene Langsamkeit gewinnt gleich der erste Satz einen so bisher nicht gekannten Charakter, wirkt nun ungleich verstörender in der ihm eigenen leidenschaftlichen Auslotung aller Seelenzustände.
Tschaikowsky selbst hat diese letzte seiner Symphonien, komponiert kurz vor seinem Tod, als programmatisch bezeichnet, das Programm aber nicht offen gelegt. Mikko Franck deutet die musikalische Botschaft hier zunächst als Umschreibung unerbittlicher Realitäten menschlichen Daseins. Er verzichtet auf dramatische Tempi-Wechsel und vor allem (welch ein Fortschritt!) auf den sonst oft üblichen (über)satten Streichersound. Der "Trost" des lyrischen Seitenthemas erwächst dadurch ungleich überraschender aus dem zuvor scheinbar so unrettbar dunklen Material des Eingangs.
UNRUSSISCH, UNDEUTSCH - EINFACH ANDERS
Der Streicherapparat wird, wie gesagt, recht schlank geführt, nicht wabernd und schluchzend. Einen typisch deutschen Symphonieorchester-Streicherklang sucht man hier vergebens. Aber auch knallige Bläser- und Paukeneffekte werden nur selten, dafür dann sehr gezielt verwandt - insofern ist es auch ein "unrussischer" Orchesterklang.
Das Schwedische RSO spielt stattdessen einen eigenen Stil, der technisch wie interpretatorisch überzeugt: Klar, präzise, mit getupften, nicht verwaschenen Effekten und akkuraten Einsätzen.
GELUNGENER WALZER, ENTSCHÄRFTER MARSCH UND EIN GRANDIOSER SCHLUSS
Und so wird auch der zweite Satz, ein Walzer ("Lächeln unter Tränen", wie Tschaikowsky selbst meinte), zu einem Hörgenuß. Franck und sein Orchester präsentieren diesen Walzer - ganz der Idee des Komponisten gemäß - zwar lieblich, aber dennoch drängend und sehnsuchtsvoll. Kein süßlich schwelgerisches Wiegen ist zu hören.
Der einzige nicht ganz überzeugende Satz ist der Dritte, Allegro con molto vivace. Hier schlägt das langsame Grundtempo zurück, denn durch dieses kommte eben kein "molto vivace" zustande. Dieser Teil der Symphonie, der sich an sich durch rhythmische Rasanz auszeichnet, wird durch die Dehnung unnötig entschärft. Auch erscheint der Marsch, in den das Scherzo mündet, wenig kraftvoll, so dass die Kontrastwirkung des langsamen Schlußsatzes nicht ganz zur Geltung kommt.
Dieser ist jedoch im übrigen wieder absolut überzeugend dargeboten. Das Requiem, welches sich Tschaikowsky mit diesem Satz gewissermaßen selbst komponiert hat, kommt als anrührendes "lamentoso" daher. Eine zurückhaltende bis resignative Klage, in welche sich nur noch vereinzelt trostreiche Momente mischen. Franck gestaltet den Satz äußerst sensibel, fast fragil und damit ungewöhnlich eindrucksvoll.
RAUTAVAARA ALS ZUGABE
Da Franck sich für die "Pathétique" rund 55 Minuten Zeit nimmt, bleibt nur noch Platz für eine knappe Zugabe, hier in Gestalt von Rautvaaras "Apotheosis". Es handelt sich um ein neoromantisches Stück des 1928 geborenen Komponisten, ein lichtes, weiches, melodisches, bisweilen auch indifferentes Werk, das sich dennoch überraschend gut zu Tschaikowsky Symphonie fügt.
Dem jungen Dirigenten liegt persönlich einiges an der Komposition, wie an Rautvaaras Musik überhaupt, und dass er sich eingehend mit beidem beschäftigt hat, erschließt sich dem Hörer unmittelbar. Mehr als ein bloßes Anhängsel also ist diese Zugabe geworden.
VORBILDLICHER KLANG
So, wie Mikko Franck mit dieser Einspielung vielen renommierten Kollegen zeigt, wie man "es macht", so tun dies auch die Techniker des Lables ONDINE. Die CD weist ein absolut transparentes Klangbild auf, ausgewogen, nicht streicherlastig, mit präzisen Höhen und Tiefen. Das ist vorbildlich und perfekt und stellt vieles in den Schatten, was die Großen am Plattenmarkt als Spitzenqualität verkaufen.
Insgesamt also ein echter Lichtblick aus dem hohen Norden. Unbedingte Empfehlung!
18 Punkte
Sven Kerkhoff
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