Interpretation: +++ / ++++
Klang: ++++
Edition: ++++
DAS BESTE ZUM SCHLUSS? - LEIDER NEIN
Mit den Live-Mitschnitten der Aufführungen der Symphonien 1-4 bringt das Label Hänssler Classic den Beethoven-Zyklus unter Roger Norrington zum Abschluß. Die vorausgegangenen CDs der Reihe sind an dieser Stelle bereits früher ausgiebig besprochen worden. Sie boten nahezu ausnahmslos Grund zu höchstem Lob.
Das gilt so uneingeschränkt für die beiden jetzt erschienen CDs jedoch nicht. Vor allem das, was Norington aus den frühen Symphonien Nr. 1 und 2 macht, vermag nicht zu befriedigen. Die erste Symphonie, noch ganz der klassischen Form und Tradition verhaftet, kann er, der so gerne die Revolution probt und die Zuspitzung liebt, nicht stehen lassen, wie sie ist. Was bei den späteren Symphonien reizvoll und interessant wirkt, das effektvolle, zupackende Spiel, wird hier zu einem ironisch bis zynischem Spiel mit dem Material: Kein Thema darf ausschwingen, kein Bogen zu Ende gebracht werden, in den grellen Akzentsetzungen gehen die lyrischen Passagen unter und so zerfällt die kunstvolle Komposition zu einer Aneinanderreihung von norringtontypischen, musikalischen Leuchtkugeln, die indes allzu schnell aufglühen und verlöschen.
Ein wenig besser ergeht es der zweiten Symphonie. Es zeichnet sich hier ab, was den Zyklus insgesamt charakterisiert: Je kühner, je "romantischer" Beethovens Stil, desto überzeugender Norringtons Deutung des jeweiligen Werks. Und da die Symphonie Nr. 2 durchaus schon klar in die Richtung weist, die Beethoven in der Symphonik einschlagen sollte, gelingt es dem Dirigent mit seinem furios aufspielenden Orchester dann auch besser, diesem kraftvollen Stück neue Seiten abzugewinnen. Das dabei vorgelegte Tempo ist extrem hoch, die Stilmittel und Phrasierungen werden auch hier übersteigert, so dass der Gesamtzusammenhang manches Mal aus dem Auge verloren zu gehen droht, doch wirkt das ganze nicht mehr so aufgezwungen, wie noch bei der ersten Symphonie.
EIN SCHUSS TRAGIK TUT GUT
Diese Leistungssteigerung setzt sich auf der weiteren CD fort, welche die Symphonien Nr. 3 und 4 beinhaltet. Gerade die dritte Symphonie, jene "Eroica", die der Komponist zuerst Napoleon gewidmet wissen wollte, bis sich dieser zum rücksichtslosen Usurpator aufschwang, wird wiederum zu einem Glanzstück der Beethoven-Interpretation. Der ständige Wechsel der Affekte, die Durchmischung der kraftvoll-heroischen mit den elegisch-tragischen Momenten gelingen in mitreißender Weise. Vor allem ist der Trauermarsch (2. Satz) von jedem Pathos befreit. Im Finale führt Norrington das Stück einem leidenschaftlichen, stürmischen Abschluß zu.
Die Deutung der vierten Symphonie bewegt sich nicht auf gleich hohem Niveau. Von der fröhlichen Grundstimmung dieser Symphonie hat Norrington sich zu einer eher unverbindlichen Interpretation verleiten lassen. Schwungvoll wie immer zwar, aber doch hinter den Möglichkeiten zurückbleibend. Im Adagio wird die Scheu vor einem zu gefühlvollen Spiel hörbar, obwohl gefühlvoll und sentimental nicht dasselbe sind, die Zurückhaltung also unbegründet ist. Feurig, manchen Teils aber auch lärmig werden demgegenüber Scherzo und Finale präsentiert.
NORRINGTONS BEETHOVEN ALS BEREICHERUNG
Auch wenn auf diese Weise der Gesamteindruck vom Beethoven-Zyklus nicht ungetrübt bleibt, so müssen diese Einspielungen, die durch die Bank - obwohl es sich um Live-Mitschnitte handelt - von bester Klangqualität sind, doch als wesentlicher Meilenstein in der Beethoven-Interpretation gewertet werden. Norrington hat den scheinbar so wohlbekannten Stücken viele interessante neue Aspekte abgerungen, unterstützt von einem Orchester, das unter seiner Leitung zur Höchstform aufgelaufen ist.
Wer eine Gesamteinspielung der Symphonien sucht, die gewiß keine respektvolle Langeweile aufkommen läßt, ist hier bestens bedient. Wer nicht gleich bei allen CDs zuschlagen will, dem seien besonders die mit den Symphonien Nr. 5&6 (Best.Nr. 93.086) und Nr. 9 (93.088) ans Herz gelegt, die wirklich nur wärmstens empfohlen werden können.
15 Punkte (Symphonien Nr. 1&2)
17 Punkte (Symphonien Nr. 3&4)
Sven Kerkhoff
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