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Musik an sich
 
Johann Strauß (1825-1899): Walzer, Polkas, Ouvertüren
Bereits erschienen (Zig-Zag-territories)
Klassik
 

Anima Eterna Orchester - Jos van Immerseel

Strauß - Walzer - Wien. Das ist für Viele der Inbegriff kleinbürgerlicher Spießigkeit und opernballseliger Dekadenz. Und dank der unermüdlichen Missionsreisen des Schmalzviolinisten André Rieu und endloser Musikantenstadl-Abende ist es so gut wie unmöglich, Schunkelhits wie der ‚Tritsch-Tratsch-Polka', ‚An der schönen blauen Donau' oder dem ‚Kaiserwalzer' (bevorzugt in Arrangements der Kastelruter Spatzen) auf Dauer zu entgehen. Überhaupt: Kein Silvester- oder Neujahrskonzert ohne Strauß! Und kaum ein großer Dirigent, der sich nicht auch mal gern an der leichten Muse versuchte. Nichts geht doch über ein großes Sinfonieorchester im Humptata-Rausch. Oder? Denn wenn - beispielsweise! - Daniel Barenboim plötzlich den Wagner im Strauß entdeckt (Silvesterkonzert mit den Berliner Philharmonikern 2001), dann stirbt selbst im ‚Kaiserwalzer' der letzte Schwung eines unschönen Todes.

Stanley Kuberick ließ in "2001 - A Space Odyssee" zur "Schönen Blauen Donau" Raumschiffe mit kaum je wieder erreichter Eleganz durchs All kreuzen. Die suggestive Kraft dieser zehn schwerlosen Minuten, von den hingetupften Akkorden des Anfangs bis zur Schlußapotheose, ist ungeheuer groß. Könnte man sich eine kongenialere, sinnlichere, ja schönere Filmmusik zu diesen Szenen vorstellen?

In beiden fällen bestimmen die Bilder, die sich mit der Musik verbunden haben, entscheidend den Eindruck, die diese beim Hörer hinterläßt: Biedermeier oder Zukunftsvision.

Doch auch jenseits des Science Fiction gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Ansätzen, die Musik von Johann Strauß aus dem Korsett der Klischees zu befreien. So hat der aus der Alte-Musik-Szene kommende Nikolaus Harnoncourt erfolgreich versucht, philologische Korrektheit und traditionelle Orchesterkultur miteinander zu verbinden. Harnoncourt, den der Musikjournalist Jürgen Kesting vor kurzem als "letzten Säulenheiligen" des E-Musikgeschäfts bezeichnet hat, ist unter den gegenwärtigen Pultstars wohl der einzige, der es sich erlauben darf, das Publikum um Enthaltsamkeit beim rhythmischen Mitklatschen zu bitten. Denn nur so könne man die neue, raffiniert-sparsame Orchestrierung des Radetzky-Marsches auch wirklich genießen. Und das beim Neujahrskonzert 2001! Das Publikum zog mit. Was bereits bei der CD-Produktion ‚Johann Strauß in Berlin' (1999) überzeugte, gab es dann auch hier zu hören: Harnoncourts mitreißendes, rhythmisch zupackendes Dirigat und das brillante Spiel des Orchesters bliesen den Staub von den zu Tode gespielten Partituren.

Einem neuen Straußbild fühlt sich auch die aktuelle Produktion verpflichtet. Der Pianist und Dirigent Jos van Immerseel und das auf historischen Instrumenten spielende Anima Eterna Orchester haben sich zwar bereits Ende der neunziger Jahre an den Walzerkönig gewagt, die Einspielung aus dem Jahre 1999 erschien aber erst in diesem Jahr. Für die Einstudierung konnten sie auf die ersten Bände der von Michael Rot edierten kritischen Gesamtausgabe von Strauß' immerhin 600 Werken zurückgreifen. Rot hat die mühevolle Arbeit auf sich genommen, aus den etwa 3000(!) Bearbeitungen einen ‚Urtext' der jeweiligen Stücke zu erstellen. Im Rückblick erscheint der Schritt von den großen Wiener Klassikern Schubert und Beethoven, denen sich das Ensemble bisher erfolgreich gewidmet hat, zur Tanzmusik des 19. Jahrhunderts gar nicht mehr so groß: "Die Menuette, Ländler und Polka-artigen Finales [von Schubert] hatten uns auf den neuen Stil vorbereitet. Und da wir schon bei vorigen Projekten stark an der rhythmischen Präzision gefeilt hatten, bereitete uns auch das keine Probleme mehr."

Nach anfänglicher Skepsis waren Dirigent ("An meiner Musikschule war Strauß verpönt, wie alles, was Spaß machte.") und Orchester für den ‚neuen', unverbrauchten Strauß entflammt. Instrumente Wiener Bauart aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden gesammelt, geliehen und gekauft. Zusammen kam ein Instrumentarium "das charaktervoll und anziehend klingt. Man hört den vollen, doch stets tranparenten Klang der Hörner, die Noblesse der durchschlagskräftigen Trompeten und Posaunen, die nirgends die anderen Instrumente überdecken, die Weichheit der Flöten und Klarinetten, das durchdringende Timbre der Oboen und Fagotte, die fantasievollen Perkussions-Instrumente, die musikalischen Pauken und die Streicher mit ihren betörenden Darmseiten." So Jos van Immerseel. Experimentiert wurde nicht nur mit Spielweisen, mit Phrasierung und Akzentsetzung, sondern auch mit den Tempi. Eigens engagierte Tänzer halfen mit, einen angemessenen Zugang zur Musik zu entwickeln.

Der Einsatz hat sich hörbar gelohnt: Herausgekommen ist ein eleganter, witziger, fantasievoller, dramatischer und manchmal auch uriger Strauß. Prägnantnes, schwungvolles Spiel, überraschende Akzente und ein transparentes, farbiges Klangbild tun das ihrige, daß diese Revue nicht in Heurigen-Gemütlichkeit versinkt. Die Straußsche Gratwanderung zwischen sinfonischer Opulenz und Tanzboden, zwischen Kaffeehaus und Konzertsaal gelingt überzeugend. Auch angesichts der schier unendlichen Zahl von Einspielungen in allen möglichen Variationen kann dieser repräsentative Querschnitt allen Walzer- und Polkasüchtigen vorbehaltlos empfohlen werden.

16 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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