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Musik an sich
 
Christoph Willibald Gluck (1714-1784): Alceste (Pariser Fassung 1776)
Bereits erschienen (Philips)
Oper
Cover
 

Anne Sofie von Otter (Alceste), Paul Groves (Admète), Dietrich Henschel (Hohepriester, Hercules), Yann Beuron (Évandre), Ludovic Tézier (Herold / Apoll), Nicolas Testé (Orakel / Höllengott) / Monteverdi Chor / English Baroque Soloists / John Eliot Gardiner

Der vorliegende Konzertmitschnitt ergänzt die immer noch spärliche Diskographie von Glucks zweiter ‚Reformoper' durch eine sehr dramatische und bewegende Interpretation. Nachdem schon Marc Minkowski in den vergangenen Jahren durch eine beeindruckende ‚Armide' und nicht minder mitreißende ‚Iphigenie en Tauride' die Wirksamkeit von Glucks nicht unproblematischen späten Opern unter Beweis gestellt hat, folgt nun mit John Eliot Gardiners Pariser Fassung der ‚Alceste' ein weiteres Plädoyer für einen Komponisten, der als Gesinnungstäter für ein neues, drama-orientiertes Musiktheater immer wieder gerne zitiert, dabei aber relativ selten aufgeführt wird.

Das häufig schlampige und fehlerhafte Partiturmaterial Glucks fordert vom Interpreten einiges an aufführungspraktischer Phantasie. Wohl nicht umsonst war auch der Komponist der Meinung, daß die Proben zu seinem Werk seiner Anwesenheit ebenso bedürften wie die Schöpfung der Sonne! Ein ‚textgetreues' Musizieren ist hier also keine Lösung. Bei der auf wenige, prägnante Motive konzentrierten Musik und dem schematisch notierten Rhythmus vor allem in den Rezitativen führt eine behäbig-pathetische Herangehensweise rasch zum Leerlauf. Bei der nicht immer ausgefeilten Orchestrierung droht bei mangelnder Differenzierung klangliches Einerlei. Arnold Östman hat mit seiner Einspielung der italienischen Urfassung dieser Oper (Naxos) gezeigt, daß selbst eine historisch informierte Aufführungspraxis nicht gegen gepflegte Langeweile gefeit ist.

Das Libretto begünstigt eine solch noble Stagnation - 135 Minuten geschieht hier so gut wie nichts: König Admetos liegt im Sterben, das Volk verzweifelt, die Priester beschwören die unnachgebigen Götter. Nur ein Menschenopfer kann Admetos retten. Und nur die Königin Alcestis ist bereit, ihr Leben für das ihres Mannes zu geben. Beide überbieten sich an gegenseitigen Liebesbekundungen und Opferbereitschaft. Zwar kommt auch die ‚Alceste' noch nicht ohne das Eingreifen höherer Mächte aus. Aber im Mittelpunkt stehen die Gefühle und Handlungen der Menschen angesichts einer unlösbaren Konfliktsituation.

Gardiner favorisiert wie Minkowski einen dramatisch geschärften Gluck mit großen, expressiven Gesten. Vom wispernden Pianissimo bis zum blechgepanzerten Forte werden die Extreme der Partitur ausgelotet, bedrohliche, melancholische und elegische Stimmungen (so in den Tänzen) beschworen. Hinter der erhabenen Trauer bleibt dabei der lyrische Grundtton stets vernehmbar. Indem Gardiner den einzelnen Szenen ihre spezifische Kontur und Farbe verleiht, entgeht er der Gefahr, die ‚Alceste' zwei Stunden lang als monumentales - aber auch monotones - Requiem einer tragisch-heroischen Gattenliebe über die Bühne gehen zu lassen. Statt dessen wird die Spannungsschraube ganz im Sinne Glucks kontinuierlich angezogen und bis zum glücklichen Ausgang der ‚Tragödie' eine erstaunliche Sogwirkung erzeugt.

Daß nicht nur antike Statuen, sondern Menschen agieren, verdankt der Dirigent vor allem Anne Sofie von Otter. Ihr gelingt es, den leidvollen Konflikt der Hauptfigur für die Zuhörer ergreifend darzustellen. Zwar fehlt es der Stimme mitunter an Glanz, auch stört gelegentlich eine unschöne Färbung oder das nicht gerade sparsam eingesetzte Vibrato. Durch ihre gestalterische Intelligenz gelingen der Sängerin aber immer wieder Momente großer Intensität, bei der die Wandlungsfähigkeit ihres Mezzosopran sehr schön zur Geltung kommt. Weniger glutvoll, eher königlich-kühl agiert hingegen Paul Groves in der schwierigen Rolle des Admetos, bis er im 3. Akt, auf dem Höhepunkt der Krise, doch noch an kämpferischer Leidenschaft gewinnt. Überzeugend auch Friedrich Henschel in einer Doppelrolle als Hohepriester und Herkules. Der Halbgott darf als Deus ex machina das etwas aufgesetzte Happy End herbeiführen. Henschels in der Tiefe etwas knurriger Baß paßt gut zum musikalisch polternden Charakter dieser Figur. Die übrigen Nebenrollen sind gut besetzt.

Chor und Orchester klingen bei aller Wucht etwas gedeckelt, was auch am tiefen französischen Stimmton und an der Akustik des Aufnahmeortes liegen mag. Den Klang dominieren die Streichern und markanten Blechbläser, während die Holzbläser etwas ins Hintertreffen geraten. Insgesamt wird weniger sonor und ‚entspannt' als bei Minkowski musiziert, der zudem manche Figuren - z. B. die Vibrato-Effekte in den Rezitativen - noch etwas plastischer nehmen läßt. Dafür gelingen klangliche Spezialeffekte wie die unheimlich röhrenden Klänge der aufeinandergepreßten Hörner (3. Akt, 4. Auftritt) vorzüglich und im wahrsten Sinne ‚haarsträubend'.

Ein selten gespieltes Werk in einer überzeugenden, im besten Sinne ‚musiktheatralischen' Einspielung.

16 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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