Anonyme mozarabische und Saama-Gesänge (Pérès, M.)
Memoria Eterna. Lateinische mozarabische und marokkanische Saama-Gesänge
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Info |
Musikrichtung:
Mittelalter - geistliche Musik
VÖ: 18.06.2021
(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / CD / DDD 2019 / Best. Nr. HMM 905319)
Gesamtspielzeit: 76:17
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BERÜHRT VON DER GEMEINSAMEN MITTE
Eine ursprüngliche Einheit der Vielheit, erfahren im Klang: Über ein Vierteljahrhundert hinweg hat der Leiter des „Ensemble Organum“, Marcel Pérès, die Tradition der mozarabischen Gesangs erforscht, eine erste Aufnahme erschien bereits 1994. Dabei handelt es sich um liturgischen Gesänge, die von den Christen auf der iberischen Halbinsel unter der relativ toleranten muslimischen Omajjaden-Herrschaft im Gottesdienst im 13. und 14. Jahrhundert gesungen wurden. Diese entstanden unter dem Einfluss muslimischer Gesänge, namentlich des Saama-Gesangs, der heute noch in Marokko gepflegt wird und bei Hochzeiten, Beschneidungsfesten und anderen herausragenden sozialen Gelegenheiten erklingt.
Pérès brachte diese mündlich überlieferte islamische Tradition mit den spärlichen erhaltenen Notaten des mozarabischen Gesangs zusammen und entwickelte schließlich auch unter Mitwirkung von Saama-Sängern einen Interpretationsansatz, der auf der vorliegenden Aufnahme dokumentiert ist: ein Mischung aus reich verzierter improvisierter solistischer Deklamation und notierten Ensemble-Gesängen, in der orientalische und okzidentale Musikpraxis verschmelzen.
Dabei ging es um mehr als nur um eine hypothetische Rekonstruktion einer verklungenen christlichen Welt wie auf der ersten Aufnahme.
„Memoria Eterna“, wie das neue Album übertitelt ist, ist ein interreligiöses, dabei zutiefst spirituelles Projekt: Nicht weniger als eine utopische Christlich-Muslimische Liturgie, die die mozarabischen und Saama-Gesänge, christliches und islamisches Gotteslob kombiniert. So erklingt im Eröffnungsteil nach dem christlichen feierlichen „Gloria Patri“ auch das erhabene „Allahu akbar“ – die beiden theologisch so unterschiedlichen Religionen begegnen sich hier gewissermaßen „ungetrennt und unvermischt“, und doch zeigen sie sich auf einer tieferen musikalisch-klanglichen Ebene zutiefst verbunden.
Der Gesang steigert, überhöht und transzendiert die heiligen Worte zugleich. In der Energie des gesungenen Lobpreis, in der klingenden Schönheit und Intensität der Psalmen, Hymnen und Gebete erscheinen Christentum und Islam wie zwei Aspekte einer größeren, höheren Wahrheit, die jenseits aller dogmatischen Unterscheidungen erfahren werden kann.
Höchst eindrucksvoll ist die dunkelerdig und obertönig raue Textur der einzelnen und noch mehr der kombinierten Stimmen. Während sich die improvisierten Soli durch ein ekstatisches Strömen auszeichnen, schreitet die Musik bei den kollektiven Besetzungen skandierend voran - gewissemaßen Gott entgegen. Gegenüber der älteren Aufnahme wirkt der Zugriff noch sicherer, entschiedener. Die sieben Männer klingen mitunter wie ein Ensemble tibetischer Mönche – hier öffnen sich Türen zu weiteren spirituellen Traditionen.
Von daher ist der inspirierend utopische Charakter des Projekts, von dem Pérès in einem Einführungstext spricht, evident. Es geht um „Realitäten, die in den Blick kommen, wenn wir uns auf das besinnen, was die Angehörigen anderer Religionen in ihrem Innersten erleben, wenn wir uns den Akt des Singens selbst bewusst machen.“ Wenn man dieses Album hört und mit den Sängern hörend in den Raum von Erfahrung und Verbundenheit eintritt, berührt man eine gemeinsame mystische Mitte – bzw. wird von dieser berührt.
In dieser Erfahrung, die ganz praktisch ist und geteilt werden kann, ist eine „ewige Erinnerung“ lebendig, in der zugleich die Wirklichkeit eines universellen Friedens der Religionen und Kulturen spürbar wird.
Georg Henkel
Besetzung |
Ensemble Organum
Marcel Pérès, Gesang und Leitung
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