Weniger ist mehr: Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ als Musiktheaterproduktion in Altenburg
Seit Juni lassen die gelockerten Corona-Bestimmungen auch in Altenburg und Gera wieder größere Aktivitäten des Theaters zu, und so kommt der neue Generalmusikdirektor Ruben Gazarian fast ein Jahr nach der offiziellen Übernahme des Amtes nunmehr endlich zu seiner ersten Musiktheaterpremiere: Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“. „Moment“, mag mancher Leser einhaken, „das ist doch gar kein Werk des Musiktheaters, sondern eine Sinfonie, auch wenn Mahler sie nicht so nennen wollte, weil er Angst davor hatte, daß es seine neunte und damit à la Beethoven und Bruckner wohl letzte gewesen wäre.“ Das stimmt – aber an diesem Abend sind zwei Dinge anders als sonst. Zum einen wird nicht die groß besetzte Orchesterfassung gespielt, sondern eine Fassung für Kammerorchester, arrangiert zunächst von Arnold Schönberg, der das Projekt aber schon nach der Hälfte des ersten Satzes abbrach, so daß es erst viele Jahre später durch Rainer Riehn komplettiert wurde – ein gewisses strukturelles Kuriosum also, das alle paar Jahre auch mal auf den Konzertbühnen erscheint (das MDR-Sinfonieorchester etwa hatte es kurz nach der Jahrtausendwende unter Fabio Luisi mal gespielt und auch auf CD herausgebracht) und sich für eine Wiedergabe unter pandemischen Bedingungen (und den räumlichen Bedingungen des Theaterzeltes als der Ausweichspielstätte während der laufenden Altenburger Theatersanierung, denn in diesem „Provisorium“ würde man sowieso kein Orchester spätromantischer Größe unterbringen) sehr gut eignet. Zum anderen aber handelt es sich tatsächlich um eine Erweiterung im musiktheatralischen Sinne in Richtung einer Oper (dieses Genre aber nicht ganz erreichend und das auch nicht wollend): Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera sitzt nicht auf der Bühne, sondern rechts außen, während die Bühne dem Tänzer Ion Beitia Fernandez und neun Eleven des Thüringer Staatsballetts gehört, und zudem haben auch die beiden Gesangssolisten zugleich schauspielerische Aufgaben. Letzteres trifft zumindest in der Theorie zu – in der Praxis aber fällt Mezzosopranistin Eva-Maria Wurlitzer krankheitsbedingt kurzfristig aus. Judith Christ, einigen der wenigen Zuschauer vielleicht noch aus ihren Zeiten als Ensemblemitglied des Altenburg-Geraer Theaters bekannt und nunmehr in Mainz ansässig, springt vokal ein, aber es ist zeitlogistisch nicht mehr machbar, sie die komplette Bühnenrolle einstudieren zu lassen. Ergo übernimmt Regieassistentin Juliane Stephan den szenischen Part, während die Sängerin mit beim Orchester arbeitet und von dort ihre Stimme in Richtung der Soundanlage schickt, die räumlich dann durchaus die Illusion erzeugt, der Gesang käme von der Bühne. Selbige ist spärlich beleuchtet und auch allgemein recht düster gehalten. Das zentrale Element stellt ein riesiger, angekippter und aufgeklappter Flügel dar, dessen Inneres begehbar ist und an dem ein ebenfalls riesiger Pappkamerad sitzt. Da das Theaterzelt über eine Drehbühne verfügt, gibt es die Möglichkeit entsprechender Wandelbarkeit ohne große Umräumarbeiten auf offener Szene, und eine Tür im Korpus des Flügels wird gleichfalls rege genutzt. Der Rest der Requisiten ist mobil, sei es der Kinderwagen, der Globus, das Blumenarsenal (die Lilien stehen gemäß dem Programmheft für den Tod, die riesige Margerite für das Leben, wobei aber auch sie durchaus als Waffe geeignet ist) oder der Getränkekasten, der nicht den Eindruck erweckt, als enthielte er Flaschen mit den im Text öfter besungenen Wein, sondern ein billigeres alkoholisches Getränk. Tenor Isaac Lee muß rollengemäß dieser Substanz des öfteren zusprechen und spielt dementsprechend eine eher schwankende Rolle an der Grenze zum Overacting, was aber zum Glück nicht auf den Gesang durchschlägt: Er macht seine Sache gut und übertreibt es nur mit dem Vibrato bisweilen etwas, während die Textverständlichkeit recht gut ausfällt. Mitlesen kann man im Programmheft lichtmangelbedingt nicht, aber es gibt zwei Übertitelmonitore rechts und links der Bühne, so daß man auch Judith Christs anfangs linienbetonteren Gesang lyrisch zuordnen kann, ohne Hans Bethges Originaltext auswendig zu kennen, und mit der Zeit findet auch die Altistin mehr und mehr zu Verständlichkeit, ohne an Ausdruck einzubüßen. Sie wirkt auch vom Zusammenspiel her problemlos integriert, während im Orchester vor allem in den ersten Sätzen hier und da noch ein wenig zuviel Unordnung herrscht – hier und da ist man aber auch nur überrascht, in der Kammerfassung manche Dinge von der Gewichtung her ganz anders wahrzunehmen, obwohl oder gerade weil Schönberg und Riehn in die musikalische Struktur der Partitur nicht eingegriffen, sondern „nur“ die Linien anders verteilt haben, was von diversen Musikwissenschaftlern mit dem Begriff „holzschnittartig“ umschrieben wird. Letztlich finden Gazarian und das Orchester schrittweise eine immer besser funktionierende gemeinsame Sprache, schön zu hören bereits im lieblicheren dritten Satz, exzellent dann aber im großen Orchesterzwischenspiel des Finalsatzes, wo Düsternis am Rande des Stillstandes erzeugt werden muß und diese Aufgabe prächtig gelingt, wenn etwa Shengyu Gu am Klavier ultratiefe Akkorde einwirft, die von irgendwo ganz weit jenseits zu kommen scheinen. Das sind die Momente, für die man Mahlers Werk so schätzt und ihm problemlos verzeiht, daß er mit der Textwahl (eine Nachdichtung der deutschen Übersetzung einer französischen Übersetzung altchinesischer Gedichte, die von deren Original nicht mehr viel übrigläßt) „nur“ eine der weiland so beliebten Chinoiserien schuf, die mit ureigener chinesischer Kultur ungefähr so viel zu tun hat wie Stefanie Hertel mit ureigener deutscher Volksmusik, wobei Mahler im Gegensatz zu Hertel nicht unter falscher Flagge segelt. So weit, so gut – aber da ist noch ein Knackpunkt. „Das Lied von der Erde“ ist in Mahlers Fassung ebenso wie in der von Schönberg/Riehn als autonom funktionierendes Kunstwerk gedacht und funktioniert auch tatsächlich als solches. Was Regisseurin Jean Renshaw als szenisches Element hinzufügt, muß also prinzipiell bestrebt sein, diesen Status als autonom funktionierendes Kunstwerk durch die Hinzufügungen nicht zu beeinträchtigen. Im gesanglichen Sinne gelingt das beim Tenor problemlos, dessen stimmliche Leistung durch die zusätzlich geforderte Schauspielerei nicht leidet, und auch bei der weiblichen Rolle sollte man im Idealfall davon ausgehen können, daß das Gleiche zutrifft. Akustisch bleibt allerdings ein großes Aber: Wenn aus dem Orchester entrückte Düsternis kommt, der Tenor aber betrunken über die Bühne trapsen muß und das auch entsprechend geräuschintensiv tut, verschwindet der Entrückungsfaktor ins Nirwana. Selbst die Eleven des Thüringer Staatsballetts, die mit so mancher Bewegung die Physiognomie des menschlichen Körpers ad absurdum zu führen scheinen und in der Lage sind, sich nahezu lautlos zu bewegen, stoßen bisweilen an Grenzen, wo selbst ihr behutsames Fußaufsetzen eine akustisch störende Wirkung erzeugt. Wenn dann auch noch die Soundanlage Streiche spielt und in der letzten Hälfte des letzten Satzes zusammen mit dem Gesang Christs reichlich Störgeräusche aus den Boxen kommen, potenziert sich das Problem und sorgt dafür, daß der Entrückungsfaktor zum Ende hin (und da muß die Spannung minutenlang stehen) ab- statt zunimmt, wobei Renshaw wohlweislich schon dafür gesorgt hat, daß die Handlung auf der Bühne einige Zeit vor dem musikalischen Finale endet, wobei überraschenderweise einer der Ballett-Todesengel scheinbar unmotiviert noch die Requisiten von der Bühne zu räumen beginnt. Ion Beitia Fernandez wiederum hat überwiegend einen sehr alten Mann zu spielen, dessen Bemühungen um Bewegung man mit einem eher unangenehmen Gefühl betrachtet (so ähnlich, als würde man in der Realität einen Schwerkranken betrachten, der sich mit Mühe durch die Gegend schleppt), bevor er zum Schluß ins Klavier fällt, dessen Pappkamerad schon zuvor verschwunden ist. Phasenweise erinnert der Solotänzer fast an die Gottesgestalt aus Douglas Adams’ „Per Anhalter durch die Galaxis“-Reihe, und das ist angesichts deren Lächerlichkeit nicht als Kompliment zu verstehen. Neben diversen wirklich guten Ideen für Handlungselemente (Renshaw) und Bühnenbild/Kostüme (Duncan Hayler) findet sich also auch einiges weniger Überzeugendes. Ob es des diabolischen Gelächters eines der Eleven, das in der Musik keinerlei Entsprechung findet, bedurfte, darf ebenso diskutiert werden wie die Sinnhaftigkeit des Einfalls, den Tenor im vierten Satz (wo er eigentlich pausiert) „Bruder Jakob“ vor sich hin summen zu lassen – und zwar in der Originalmelodie. Als Rückblende auf den dritten Satz von Mahlers Erster besitzt das den Effekt eines plumpen Holzhammers – Mahler hatte dort bewußt nicht einfach nur das Original verkanonisiert, sondern die Harmonik verändert und das Ganze letztlich ironisch gebrochen, und sein Umgang mit dem Material erinnert im Direktvergleich an eine Silberziselierung. So bleibt man am Ende unschlüssig zurück. Die finale Entrückung fällt wie beschrieben flach, man sinnt dem einen oder anderen Zusatzbild noch nach und schwankt in der Einschätzung dieser „Sinfonie für Gesang, Tanz und Orchester“ hin und her, sich des alten Sprichwortes „Weniger ist mehr“ nicht erwehren könnend. Das trifft offenbar nicht nur auf den Rezensenten zu, sondern auch auf gute Teile des Publikums – der Applaus ist für die geringe Kopfzahl durchaus mehr als nur freundlich, aber verwirrt und nicht langlebig. So bleibt die Hoffnung, daß man die Schönberg-/Riehn-Adaption vielleicht auch einmal in einem der regulären Konzerte des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera zu hören bekommt, jetzt da sie einmal einstudiert ist. Wer das Experiment wagen will, sich auf die Renshaw-Fassung einzulassen: In Altenburg stand außer der Premiere nur ein weiterer Termin im Kalender, und zwar am Folgeabend, also auch bereits in der Vergangenheit – angesichts der kopfzahlseitigen Publikumsflaute dürfte nicht mit zusätzlichen Terminen zu rechnen sein. Ergo bleibt die Option, nach Gera zu gehen, wo das Stück am 29.12.2021 Premiere haben soll. Roland Ludwig |
|
|
|