Keine Steinewerfer, aber Scherben: CD-Release-Konzert von Blue Undergrowth
Hoffnungslose Optimisten sind Blue Undergrowth ja durchaus. Den Termin für das CD-Release-Konzert ihres Debütalbums Küchenblues legten sie bereits mehr als drei Monate zuvor fest, zu einem Zeitpunkt, als die dritte Corona-Welle durch Deutschland schwappte und man öffentlich eher über eine Bundesnotbremse als über Öffnungsschritte für Kulturveranstaltungen nachdachte. Der Wagemut wurde belohnt: Die dritte Welle ebbte während des Frühjahres ab, und da das Konzert nicht im Glashaus im Paradies, sondern im Freigelände um dieses herum angesetzt war, stand ihm behördlicherseits nichts mehr im Wege. Für den Rezensenten war es das erste Konzert des Jahres 2021, und das dürfte auf die allermeisten anderen Anwesenden auch zugetroffen haben. Kommunikationstheoretische Probleme der dritten Art führen allerdings im Vorfeld dazu, dass bei unterschiedlichen kommunikativen Zielgruppen zwei verschiedene Anstoßzeiten zirkulieren. Der Rezensent gehört zu denen, die 22 Uhr wissen, was ihm für sein vorgelagertes Zeitmanagement auch sehr zupaß kommt. Als er pünktlich 22 Uhr am Glashaus im Paradies (dahinter verbirgt sich ein kleines Gebäude im Volkspark Oberaue, mit dem, für den Osten Deutschlands ungewöhnlich, versucht wurde, Prinzipien des offenen Bauens, wie sie in Florida oder Kalifornien gepflegt wurden und werden, zu adaptieren) eintrifft, stellt sich allerdings heraus, dass das Konzert eigentlich schon vorbei ist – es wurde der frühere der beiden Termine gewählt. Da allerdings der Rezensent nicht der einzige ist, der erst 22 Uhr eintrifft, und zudem auch noch etliche Besucher eines zwischenzeitlich beendeten Auftritts der Punkband Sad Neutrino Bitches (die laut einem Augen- und Ohrenzeugen einen gewissen Niveauunterschied zu dem von Dream Theater offenbart habe) vor einer anderen baulichen Struktur im Volkspark Oberaue hinzustoßen, entschließen sich Blue Undergrowth, noch einen zweiten Set zu spielen, und der Rezensent kann sich aus eigenem Erleben also nur zu diesem äußern. Dass gewisse Entscheidungen, was gespielt wird, spontan fallen würden, hatte die eine Hälfte von Blue Undergrowth, Multiinstrumentalist Jan-Markus Teuscher, dem Rezensenten schon vorher mitgeteilt, und genau das passiert dann auch. Während der erste Set sich tatsächlich zu guten Teilen aus Material des Debütalbums gespeist haben soll (so jedenfalls wird es dem Rezensenten berichtet), trifft das beim zweiten Set nur auf den Anfang zu, wonach bald unkonserviertes Material zum Zuge kommt, zudem dynamisch deutlich vielseitigeres und partiell zupackenderes: Der Beginn mit „Bossa“ wirkt noch eher introvertiert, erst das Reiselied „Uh Yeah!“ lotet die expressiven Möglichkeiten von Sängerin Anke Scheller, der die Theorieinformationen eine „krasse Bluesstimme“ attestieren, deutlich weiter aus, und der „Goldene Reiter“ hebt auch den Grundbeat deutlich an. Diese beiden Nummern markieren auch die beiden tragenden Säulen des Bandschaffens: Schellersche Eigenkompositionen und Coverversionen mit leichtem (Set 1) bis beträchtlichem (Set 2) Übergewicht bei letzteren. Und ja, es handelt sich in diesem Falle tatsächlich um die Witt-Nummer, aber es wird mit den Dire Straits, J.J. Cale oder His Bobness noch viel bunter, und der anarchistische Teil der Besucher freut sich natürlich auch über „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, obwohl das in der Blue-Undergrowth-Fassung irgendwie eher bemüht wirkt. Da überzeugt die andere Scherben-Nummer, die als Setcloser erklingt, mehr: „Komm schlaf bei mir“, eine eher introvertierte Halbballade (nicht etwa von einem der nachdenklicheren späten Alben, sondern vom Zweitling Keine Macht für Niemand stammend), in der auch Gastflötistin Gabi Fröhlich wichtige Rollen spielt. Blue Undergrowth, in der Stammbesetzung als Duo unterwegs, haben sich auf CD mit zwei Gästen verstärkt und musizieren auch an diesem Abend überwiegend in Quartettformation, wobei im Gegensatz zu Gabi der zweite CD-Gast, Gitarrist Krishna, nicht anwesend ist, dafür aber ein anderer Gitarrist namens Jörg Seidensticker, und zum Schluß sitzt noch ein weiterer Gast vornamens Norman am Cajón, während ansonsten die perkussiven Elemente eher dadurch beigesteuert werden, dass einer der Saitenspieler auf den Korpus seines Instrumentes klopft, oder man sie gar nicht vermißt, weil Jan-Markus seinen Kontrabaß phasenweise sehr rhythmusbetont spielt. Er kann aber auch weiche Klangwiesen ausrollen, und gelegentlich ist er auch noch an der Mundharmonika aktiv. Es dauert an diesem Abend in Set 2 ein paar Songs, bis für dieses Konglomerat die richtigen Klangeinstellungen gefunden sind – Gesang und Flöte stehen zu Beginn etwas zu weit im Hintergrund, was sich ab „Uh Yeah!“ schrittweise zum Besseren wandelt. Die Wahrnehmung ist aber auch dadurch gestört, dass das Publikum das Konzert mehr als soziales Ereignis begreift, nachdem man sich monatelang nicht mehr bei Kulturveranstaltungen getroffen hat, und somit der Gesprächslautstärkepegel so manche Feinheit im Sound übertönt. Die beiden DJs, die vor und nach den Bandsets für Konservenmusik sorgen, machen sich wiederum einen Spaß daraus, nach einigen Songs Applaus einzuspielen, der eher nach Wacken als nach Glashaus im Paradies klingt. Eine längere Stimmphase auf der Bühne vor dem Song „Alien“ (nein, keine Tankard-Coverversion – oder der Rezensent hat sie zumindest nicht als solche erkannt, falls es doch eine dekonstruktivistische ihrer Art gewesen sein sollte) überbrücken sie außerdem mit spaceartigen Sounds, und generell herrscht ein eher anarchistisches Feeling, so dass etwa die Depeche-Mode-Nummer „Personal Jesus“ nach dem ersten Refrain abgebrochen wird, weil Scheller so komplett raus ist, dass sie den zerschnippelten Faden nicht wiederfindet, so dass statt dessen die nächste Nummer im Set folgt. Um eine kompetente Bewertung des Liveschaffens von Blue Undergrowth abzugeben, muß der Rezensent die Formation also noch einmal unter anderen strukturellen Umständen besuchen (er hat von seinem Standplatz aus auch eine eher suboptimale Sicht auf die Bühne, die eigentlich gar keine ist, weil die Musiker ebenerdig agieren), und er hat sich bewußt auch die CD vor dem Eintippen dieses Konzertreviews noch nicht angehört, was er aber natürlich noch tun wird, denn ein CD-Review folgt demnächst noch. Ach ja, und wie nennt man das musikalische Gebräu nun eigentlich? Auch das ist äußerst schwierig zu beantworten, der Rezensent behilft sich erstmal mit dem CD-Titel, obwohl gar nicht so viel Blues im Gesamtmix zumindest dieses zweiten Sets gelandet ist. Ein interessanter Abend ist’s jedenfalls allemal. Wer das Review zeitnah nach Erscheinen liest, kann sich am 17.7.2021 an gleicher Stelle auch selbst ein Bild von der Formation machen. Setlist: 1. Bossa 2. Uh Yeah! 3. Half Time 4. Six Blade Knife 5. After Midnight 6. Alien 7. Goldener Reiter 8. Macht kaputt, was euch kaputt macht 9. Misirlu 10. Personal Jesus 11. All Along The Watch Tower 12. Komm schlaf bei mir Roland Ludwig |
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