Musik an sich


Reviews
Lully, J.-B. (Christie - Carsen)

Armide


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 30.05.2011

(FRA / Harmonia Mundi / 2 DVD / live 2008 / Best. Nr. FRA005)

Gesamtspielzeit: 169:00



DISTANZIERT MODERN

Kühl und elegant bis zur Eintönigkeit hat Robert Carsen die berühmte lyrische Tragödie Armide von Jean-Baptiste Lully und seinem Librettisten Quinault inszeniert. Barocke Augenlust darf sich nur im ironisch umgedeuteten Prolog, allerdings dort auch nur in Gestalt einer Video-Projektion, entfalten. Die Idee, die Allegorien von Ruhm und Weisheit, die das obligatorische Königslob anstimmen, als Fremdenführerinnen zu inszenieren, die mit der Fernsteuerung erst die zahllosen Portäts Ludwig XVI. Revue abrufen, bevor es – via Film – nach Versailles geht, erzeugt eine gewisse Distanz zum Drama der unglücklich verliebten Zauberin Armide, die das ganze Stück über fortwirkt.

Eine „Touristengruppe“ lässt sich in Versailles von den festlichen Chören und Tänzen zu den obligatorischen Balletteinlagen animieren, die in der Choreographie von Jean-Claude Gallotta irgendwo zwischen Neobarock und einer fahrigen Postmoderne hängenbleiben. Bei voller Bühne gibt es einfach nur viel Bewegung, aber keine wirklich stringente Form, die der architektonischen Strenge der Musik entspräche. Im Park werden die Rasenornamente durchtanzt, in der Spiegelgalerie im Takt die Haare gerichtet. Einer der Herren – der spätere Renaud-Sänger Paul Agnew - bleibt im königlichen Schlafgemach zurück und kann der Versuchung nicht widerstehen, einmal im Prunkbett Probe zu liegen. Er schläft ein und träumt sich dann als Held Renaud (Rinaldo) durch die folgenden fünf Akte der Oper, die Carsen in eisigen Silbergrau und –blautönen mit einigen kräftigen roten Akzenten inszeniert. Dabei hätte die Traum-Idee doch auch noch die phantastischsten Regie-Einfälle legitimiert, ganz zu schweigen von den tiefen-psychologischen Deutungsmöglichkeiten, die in der Geschichte angelegt sind. Doch offenbar sind (Bühnen)Träume im 21. Jahrhundert eine coole Angelegenheit geworden.
Das königliche Bett verbleibt als Hauptrequisit im Zentrum Geschehens. Emotionen gedeihen im Designer-Set quasi unter Laborbedingungen. Selbst der 4. Akt, in der zwei Ritter sich auf die Suche nach Renaud machen und dabei durch dämonischen Liebeszauber fast vom Weg heldenhafter Tugend abgebracht werden, gerät zu einer buffonesken Einlage bestenfalls mit Kühlschrank-Erotik (trotz nackter Tänzerin). Dass diese beiden Herren im 5. Akt Renaud zur Erkenntnis seiner wahren Bestimmung bringen (Ruhm statt Liebe!), fällt zudem einer kleinen Kürzung zum Opfer. Nun ist es der Held selbst, der sich aus dem amourösen Traumgespinst befreit, in das ihn Armide verstrickt hat.

Im Orchestergraben des Théatre des Champs-Elysées sorgen bei trockener Akustik William Christie und Les Arts Florissants für eine farbenreiche Wiedergabe der Musik. Christie kompensiert einige der ursprünglichen barocken Bühneneffekte durch exotische Schlagzeugklänge und setzt vor allem in der monumentalen Passacaglia des 5. Aktes auf die malerischen Momente der Musik. Obwohl eigentlich alles sitzt, mag der Funken dennoch nicht so recht überspringen und die Musik geschmeidig fließen.
Dabei versammelt die SängerInnen-Riege diverse Stars der französischen Alte-Musik- und Barock-Opern-Szene, die die Grenzen von Carsens Sets wenigstens zum Teil vergessen machen. Paul Agnews Tenor-Stimme ist mit der Zeit etwas nachgedunkelt; doch unverändert ist ihre Wandlungsfähigkeit und Intensität, mit der er das Porträt des verführten und verzauberten Helden überzeugend gestaltet. Die Armide der Stéphanie d’Oustrac glüht stimmlich wie darstellerisch von jugendlichem Feuer und verzehrender Leidenschaft. Auch wenn ich im Vergleich mit Guilimette Laurens, die diese Rolle 1991 in einer nach wie vor maßstäblichen Harmonia-Mundi-Produktion unter Philippe Herreweghe gesungen hat, eine gewisse dunkle, dämonische Kraft und Glut vermisse: d’Oustrac setzt in dieser tour de force Maßstäbe. Mit dem bassschwarzen Hidraot von Nathan Berg und dem gallig-baritonalen Hass (La Haine) von Laurent Naourie setzt Christie auf bewährte Charaktersänger. Die kleineren Rollen werden u. a. von Claire Debono und Isabelle Druet in der Rollen der Armide-Vertrauten sowie mit Marc Mauillon, Marc Callahan, Andrew Tortise und Anders J. Dahlin in den männlichen Nebenrollen ebenfalls tadellos ausgefüllt. Auch der Chor verbindet die bekannte Präzision und Wärme mit Spielfreude.

Auch wenn die Inszenierung die dramatische Energie der Geschichte nicht wirklich entfesselt, so überwindet die Musik in ihren stärksten Momenten – z. B. den orchesterbegleiteten Monologen Armides oder der zauberischen Naturidylle des 2. Aktes – den Graben der Jahrhunderte. Carsen hat recht, wenn er in der anhängenden Dokumentation immer wieder auf die Modernität dieses Musiktheaters hinweist.

Demnächst wird übrigens beim gleichen Label die legendäre Atys-Produktion von Jean Marie Vigellier aus dem Jahr 1986 erscheinen, die jüngst wieder mit Christie & Co. aufgeführt wurde. Der Vergleich dürfte sehr interessant werden ...



Georg Henkel



Trackliste
Extras: Dokumentation „Armide à Versailles“ u. a. mit Robert Carsen und William Christie (31:00)
Besetzung

Stéphanie d’Oustrac: Armide
Paul Agnew: Renaud
Nathan Berg: Hidraot
Laurent Naourie: La Haine
In weiteren Rollen: Claire Debono, Isabelle Druet, Marc Mauillon, Marc Callahan, Andrew Tortise und Anders J. Dahlin

Chor und Orchester Les Arts Florissants

William Christie: Leitung

Robert Carsen: Regie

Jean-Claude Gallotta: Choreographie


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