Musik an sich


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Varèse, E. (Lyndon-Gee)

Orchesterwerke 2


Info
Musikrichtung: Moderne Orchester

VÖ: 02.05.2008

(Naxos / Naxos CD DDD 2000-2005 / Best. Nr. 8.554820 und 8.557882)

Gesamtspielzeit: 138:00



ES KRACHT

Wenn die Orchesterwerke Edgard Varèses noch 80 Jahre nach ihrer Uraufführung das Publikum verstören, ja skandalisieren, spricht das für ihre Unverbrauchtheit und Frische. Oder für ihren gescheiterten Innovations-Anspruch, der über die Jahre zu Neue-Musik-Klischees erstarrt ist: laut, grell, kakophonisch.
In der Tat scheint Varèse mit seinen kompromisslosen Werken die Neue Musik nach 1945 zumindest klanglich in Vielem vorwegzunehmen: die freie Behandlung der Dissonanz, Einbeziehung von Geräusch und stilisiertem Maschinenlärm, Collage, Polyrhythmie, Erforschung neuer, auch elektroakustischer Klangkombinationen (Sirenen, Ondes Martenot), extreme Dynamik, Ausweitung des harmonischen Spektrums durch Viertel- und Obertöne.
Varèse wollte wahrhaft zeitgenössische Musik schreiben, Musik, die sich den Modern Times, der globalen Alltags- und Industriewelt mit ihren Auf- und Umbrüchen, ihren Katastrophen und Triumphen öffnet und klangliche Entsprechungen für die aktuellsten, himmelstürmenden Entwicklungen findet.
So gesehen ist das monumentale Amériques (1921) nicht nur ein Porträt des modernen Amerikas, sondern mehr noch ein programmatischer Aufbruch in neue Klangwelten, die Realisierung einer Utopie, in der Varése mit den damals verfügbaren akustischen Mitteln eine Vision der elektronischen Musik erschaffen hat.
Die Originalversion sieht ein Riesenorchester mit 155 Mitwirkenden vor. Varèse hat später aus aufführungspraktischen Gründen Striche vorgenommen. An der Radikalität der gigantischen Urfassung lässt uns nun dankenswerter Weise Christopher Lyndon-Gee am Pult des Polnischen Nationalen Radio-Sinfonie-Orchesters teilhaben. Sie realisieren das nervös-zuckende Klangrelief der Komposition mit Verve und Brio und lösen auch mit den übrigen Stücken auf dieser Platte jenes Versprechen ein, das sie vor sieben Jahr bei der Veröffentlichung ihrer ersten CD mit Orchesterwerken Varéses gegeben haben: das schmale erhaltene Oeuvre des Komponisten (es passt auf zwei Silberlinge) in einer unbedingt hörenswerten Einspielung vorzulegen.

Klanglich granithart und mit etwas trockenen Bässen mag diese Produktion zwar nicht ganz mit Riccardo Chaillys Decca-Version (1992-1998) konkurrieren können. Interpretatorisch belegt sie allerdings einen Spitzenplatz unter den Einspielungen. So übertrifft sie ohne weiteres die zwar akkurate, doch blutleere Einspielung von Altmeister Pierre Boulez. Die polnischen Musiker spielen unter Lyndon-Gee die Musik geradezu lustbetont, um nicht zu sagen: rockig, und zeigen überhaupt keine Angst vor den Neuen Tönen. Dabei fordert Varèse Ausführenden wie Hörern das Letzte ab. So widmet man sich seinen Werken besser nach und nach – bei den blitzkurzen Trackpausen auf der aktuellen CD ist das nicht ganz einfach.

Wer den sanften Einstieg sucht, sollte mit Un grand Sommeil noir aus dem Jahre 1906 beginnen. Das einzig erhaltene Frühwerk des damals 23jährigen Komponisten ist ein sich anheimelnd zwischen Archaik und Moderne bewegendes Klavierlied, das bei aller Fremdheit von den ab 1921 einsetzten Schocks noch nichts erahnen lässt. Dass der Komponist Humor besaß, beweist Tuning up, das das Einstimmen des Orchesters zum Konzertbeginn zum Thema macht und aus den Einschwingvorgängen auf den Kammerton sein zunehmend virtuoser und eruptiver sich gebärdendes Ausgangsmaterial gewinnt.

Fazit: Ein ideales Varèse-Set nicht nur für Einsteiger. Auch Kenner werden es mit Gewinn und Vergnügen hören.



Georg Henkel



Trackliste
CD Orchesterwerke 1: Arcana – Octandre – Offrandes – Intégrales – Déserts 70:46

CD Orchesterwerke 2: Amériques – Écuatorial – Nocturnal – Dance for Burgess – Tuning up – Hyperprism – Un grand Sommeil noir – Density 21.5 – Ionisation 67:14
Besetzung

Elizabeth Watts: Sopran
Maria Grochowska: Flöte
Thomas Bloch: Ondes Martenot

Männerstimmen der Camerata Silesia

Polnisches Nationales Radio-Sinfonie-Orchester

Ltg. & Klavier: Christopher Lyndon-Gee



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