Chin, U. (Nagano)
Alice in Wonderland
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik Oper
VÖ: 11.04.2008
(Medici Arts / Naxos / DVD 2007 / Best. Nr. 2072418)
Gesamtspielzeit: 126:00
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UNHEIMLICHES WUNDERLAND
Viele Jahre hatte György Ligeti immer wieder über diesen Operntraum gesprochen: Lewis Carrols Alice in Wonderland. Dieser Klassiker der Nonsense-Literatur über das kleine Mädchen Alice in einem Traumreich jenseits aller rationalen Logik blieb am Ende unkomponiert. War es die Angst, dass schließlich doch so etwas wie eine konventionelle Oper dabei herauskommen würde, die der formalen wie inhaltlichen Doppelbödigkeit der Vorlage so gar nicht entsprach? Welche musikalische Sprache könnte überhaupt dafür geeignet sein?
Die Skrupulosität des Komponisten sorgte immer wieder dafür, dass musikästhetische Entscheidungen revidiert wurden. Auch ein fertiges Libretto gab es nicht. Am Ende hat wohl auch die nachlassende Gesundheit Ligetis eine Realisierung des ehrgeizigen Projekts verhindert. Wie das Werk am Ende geklungen haben könnte, kann man in einigen der Nonsense-Madrigale nachhören, die Ligeti 1986 für die King’s-Singers auf Alice-Szenen geschrieben hat …
So kam es, dass sich eine seiner Schülerinnen, die Koreanerin Unsuk Chin, nach vorsichtigem Sondieren des Stoffes annahm. Auch Chin hatte sich bereits Anfang der 1990er Jahre in dem Lieder-Zyklus Akrostichon – Wortspiel mit der Vorlage von Carroll beschäftigt. Die rund zweistündige Oper, die 2007 an der Bayerischen Staatsoper Premiere hatte, ist im Tonfall freilich nicht ganz so radikal wie die Stücke von 1991. Chin hat sich für einen zeitgenössischen „vermischten Stil“ entschieden, der den unterschiedlichen Personen und Handlungsebenen der Vorlage entspricht. Ihre eigene, in vielen Details hörbar von Ligeti beeinflusste farbige Sprache wird zusätzlich mit wohldosierten Stilzitaten aus der klassischen wie der Unterhaltungsmusik koloriert.
Das Libretto, das von David Henry Hwang und Chin selbst stammt, erfährt so eine denkbar plastische, bei aller Modernität und Fantasie stets verständliche Musikalisierung. Die Handlung folgt im Wesentlichen der „Wonderland“-Geschichte. Lediglich die Rahmenhandlung ersetzte Chin durch Motive aus eigenen Träumen, so dass Alice nicht nur als eine biographische Projektion der Komponistin erscheint, sondern auch als Teil einer Geschichte vom Erwachsenwerden. Auf jeden Fall bekommt die Alice-Geschichte ein stark erotisch aufgeladenes Vorzeichen verpasst, Sigmund Freud lässt grüßen. Auch sonst wurden viele Dialoge umgearbeitet, „musikalischer“ gemacht oder durch Anspielungen aller Art vergegenwärtigt.
Inszeniert hat Achim Freyer. Er entschied sich für eine stilisierte Darbietung im Schwarzen Theater. Die Sänger/innen agieren meist knapp oberhalb des Orchestergrabens – oft sind nur ihre maskierten bzw. geschminkten Köpfe zu sehen - und werden auf der Schrägbühne durch Pantomime und Puppen gedoubelt. Die Schwarzlichtästhetik bringt das bekannte Personal wie den Märzhasen und den Verrückten Hutmacher, die Grinsekatze oder die blutrünstige Herzkönigin in grellfarbiger Unheimlichkeit auf die Bretter. Mit einfachsten Mitteln wie ein- und ausfaltbaren Lampions werden verblüffende Illusionen wie das Erscheinen und Verschwinden der Katze und ihres sardonischen Grinsens erzeugt.
Freyer und seine Kostümbildnerin Nina Weitzner ließen sich beim Design der Figuren von Kinderzeichnungen und der Kunst psychisch Kranker inspirieren. So haftet den Bildern nichts von der pittoresken Heimeligkeit der berühmten Illustrationen John Tenniels an, die die meisten Alice-Ausgaben zieren. Vielmehr glaubt sich der Zuschauer zusammen mit Alice in einem karnevalesken Albtraum gefangen. Dieser Grand-Guignol-Effekt passt allerdings gut zu der ansonsten viel zu oft durch die kinderfreundliche Kitschbrille gelesenen Alice-Geschichte.
Chins labyrinthische Musik tut ein Übriges, um jede falsche Niedlichkeit vom Stoff fernzuhalten. Alice, vorzüglich gesungen und (hinter einer riesenhaften Drahtmaske) gespielt von Sally Matthews, bleibt dabei im Zentrum des Geschehens zwei Stunden praktisch ununterbrochen auf der Bühne, während sich rundherum und vor allem über der Figur die Geschichte ereignet. Das ist eher zeremoniell und statisch gedacht. Freyer lässt animierte Tableaus entstehen, die man am besten in der Fernsicht erlebt.
Der DVD-Mitschnitt setzt dagegen auf eine sehr bewegliche Kameraführung und Split-Screen-Effekte mit schnellen Schnitten. Das gerät sehr unruhig und oft auch verwirrend (und wikt am Ende zunehmend öde). Nur mit Mühe bekommt man als Zuschauer die Einzelmomente gedanklich wieder zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Immerhin entspricht diese Präsentation der Beweglichkeit, die Chins Musik insgesamt auszeichnet.
Die Musik klingt beim Chor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper sowie dem Bayerischen Staatsorchester und den oft mit mehreren Rollen beschäftigen Solist/innen unter Kent Nagano allerdings ausgezeichnet. Aber ob es wirklich „die“ Alice-Oper geworden ist? Möglicherweise hat Ligeti am Ende ja erkannt, dass das Werk am Besten als Utopie funktioniert.
Georg Henkel
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Besetzung |
Sally Matthews: Alice
Pia Komsi/Julia Rempe: Cheshire Cat
Dietrich Henschel: Duck / Mad Hatter
Andrew Watts: White Rabbit / Badger / March Hare
Guy de Mey: Mouse / Pat / Cook / Dormouse / Invisible Man
Gwyneth Jones: Queen of Hearts
u. a.
Chor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper
Bayerisches Staatsorchester
Leitung: Kent Nagano
Inszenierung und Regie: Achim Freyer
Kostüme & Puppen: Nina Weitzner
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