Fragwürdig und nur teilweise erfolgreich – „CALLING ALL NATIONS“, das christliche Großspektakel im Berliner Olympiastadion geriet kleiner als erhofft
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Künstler: Diverse
Zeit: 15.07.2006
Ort: Berlin, Olympiastadion
Besucher: 22000
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Eine Gruppe von Menschen um den englischen Lobpreisleiter Noel Richards hatte für den 15. Juli das Berliner Olympiastadion für die Großveranstaltung “Calling all Nations“ gemietet. Gleichgültig ob der Event nun ein Gottesdienst mit viel Musik oder ein Popfestival mit gottesdienstlichen Elementen war, allein die Dimension rechtfertigt einen intensiveren Blick. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass statt der erhofften 75 „nur“ 22.000 Menschen ins Stadion kamen. Wir widmen uns der Angelegenheit in vier Kapiteln.
Kapitel 1: Die Vision
Die Karriere Noel Richards begann in einer kleinen Gemeinde bei London. Dort veranstaltet er so genannte Lobpreisgottesdienste, eine relativ neue Gottesdienstform, bei der es nicht um Moral, theologische Lehre oder die politische Dimension des Evangeliums gehen soll. Man konzentriert sich darauf Gott zu loben und zu preisen und zwar mit viel Musik, die oft direkt für den jeweiligen Gottesdienst geschrieben wird.
Richards hatte damit begonnen, Stücke bekannter US-Lobpreis-Pioniere nachzuspielen. Bald aber begann er eigene Sachen zu schreiben. Die hatten Erfolg, wurden auch in anderen Gemeinden benutzt und schließlich von ihm selber aufgenommen und veröffentlicht. (Eine 6-CD-Box mit seinen Alben wurde im November 2005 in der MAS vorgestellt.)
Dann hatte der fromme eine Vision, die er 1979 verwirklichen konnte. Von der gut besuchten Gemeinde wagte er den Sprung ins Wembley Stadion. Der Mut wurde belohnt. Das Konzert ein voller Erfolg. Jetzt lagen die Stadien der Welt vor Richards. Bereits 2001 wollte er in Berlin am Start sein. Wegen der mehrjährigen Renovierungsarbeiten im Stadion für die WM bekam er aber erst für das Jahr 2005 einen Termin. Der geplante Termin wurde publiziert und mit der CD Road to Berlin (Review MAS Dezember 2004), der eine DVD mit Aufnahmen aus dem Wembley-Stadion beilag, beworben.
Die Renovierungen in Berlin zogen sich aber länger hin als erwartet. Der Termin musste verschoben werden. Am 15. Juli 2006, eine Woche nach der WM war es nun so weit.
Kapitel 2: Die ernüchternde Realität
Gegen eins – etwa zwei Stunden nach Veranstaltungsbeginn – habe ich in der Ostkurve des Stadions – direkt gegenüber der Bühne - die Tribüne betreten und war erst einmal entsetzt. Gähnende Leere schlug mir entgegen. In den Blocks hinter und neben der Bühne war kein Mensch. Der Innenraum war völlig leer. (Wie anders waren da die Bilder aus dem Wembley-Stadion, wo eine riesige Menschenmasse vor der Bühne wogte.) Der Raum vor der für dieses Stadion viel zu kleinen Bühnen wirkte wie eine große Wunde. Der WM-Rasen war bereits wieder abgerollt. Der nachte Sand lag offen da. Das Stadion erweckte den Eindruck einer Großbaustelle, auf der sich die Tanzgruppen, die auf der Tartanbahn die Auftritte verschiedener Bands begleiteten, optisch verloren wie winzige Betonmischer.
Der zweite Blick linderte das Entsetzen dann doch etwas. Die Ostkurve, in der ich mich befand, war im unteren Teil voll besetzt; die oberen Ränge und die Seitenblocks zumindest mit Lücken gut gefüllt. Wirkliche Konzertstimmung kam dennoch nur begrenzt auf. Das mag an der großen Trennung zwischen Mitwirkenden und Publikum gelegen haben, an der großen Hitze oder auch der ernüchternden optischen Ausstrahlung. Die „Bühne“ 2 war ein besserer Witz. Direkt vor der Ostkurve war eine Abdeckung auf den Boden gelegt, Boxen und Kameras drum herum – fertig. Bei einem Event dieser Größe und Eintrittspreisen von 40 € aufwärts kann man anderes erwarten.
Kapitel 3: Und dennoch…
Und dennoch war die Stimmung im Stadion prima. Bei hochsommerlichen Temperaturen genossen die überwiegend wohl freikirchlich geprägten Besucher ein Art Familienfest ihrer Kirchen. Viele der gespielten Lobpreislieder waren einem Großteil der Anwesenden bekannt und konnten auch mit verklärt geschlossenen Augen ohne Hilfe der auf den Videoscreens eingeblendeten Texte gut mitgesungen werden. Die immer wieder eingestreuten Kurzpredigten von deutschen und prominenten internationalen Lobpreisleitern wurden mit laut zustimmendem Beifall aufgenommen.
Wer gerade keine Lust hatte den Bands und Predigern zuzuhören, begab sich vor das Stadion, wo die Stände unterschiedlichster christlicher Gruppen aufgebaut waren – christliche Verlage und Plattenfirmen, Missionsschulen, christliche TV-Sender, einige der beteiligten Bands und Gruppen, die sich für den Schutz des ungeborenen Lebens oder die Judenmission einsetzten, versuchten auf sich aufmerksam zu machen. An den Ständen entlang flanierten sommerlich gekleidete Menschen zwischen 12 und vielleicht 50 Jahren, ließen sich auf Gespräche ein oder schauten einfach nur, verzehrten gekaufte oder mitgebrachte Leckereien und kauften natürlich auch Bücher, CDs, Videos und Aufkleber, die en masse angeboten wurden.
Im Stadion gab es ein durchwachsenes Programm ohne wirkliche, aber mit einigen relativen Highlights. Judy Bailey konnte die Menge mit ihren Sounds zwischen Reggae, Pop und Gospel zu den ersten Laola-Wellen hinreißen. Die Broken Walls, eine Truppe kanadischer Indianer, begeisterte mit Tribal-Drums, Indianerkostümen und –Tänzen. Noel Richards hatte mit seiner rockenden Band natürlich ein Heimspiel. Die Publikumsanimation war an diesem Tag ein Kinderspiel. Die gut erzogenen Christenmenschen klatschten, wenn sie klatschen sollten, erhoben die Arme in routinierter Verzückung an den Stellen, an denen in „normalen“ Konzerten die Feuerzeuge aufflammen.
Kapitel 4: Das Problem dahinter
Eigentlich sollte man eine derartige Präsentation christlicher Lebendigkeit aus vollem Herzen begrüßen. Ein Blick hinter die Kulissen weckt dennoch Skepsis. Das bedarf einer kurzen Erklärung. (Wem es nur um Musik geht, der kann den Artikel jetzt verlassen. Es wird kirchenpolitisch.)
Wer sich in der kirchlichen (protestantischen) Szene Deutschland ein wenig auskennt, weiß dass es zwei Hauptströmungen gibt. Da ist erst einmal der „Normalfall“: die großen Landeskirchen, die sich durch großen Pluralismus, aber oft auch durch große Unverbindlichkeit auszeichnen. Viele Menschen sind einfach aus Tradition Mitglied. Jugendliche werden häufig bei der Konfirmation das letzte Mal in der Kirche gesehen und erschienen dann bevor sie im Seniorenkreis erscheinen lediglich bei Taufen oder Hochzeiten in der Kirche.
Daneben gibt es verschiedene so genannte Freikirchen, die in der Regel irgendeine theologische Besonderheit haben, aufgrund der sie sich einmal gegründet haben. Die Mitglieder sind oft wesentlich aktiver. Es ist etwas Besonderes zu so einer Kirche zu gehören. Das stärkt die Identität und die Identifizierung mit der Kirche. Am Rande dieser Freikirchen und jenseits von ihnen gibt es die merkwürdigsten Gruppen und Grüppchen, die teilweise weit in den Bereich der Sekten hineingehen.
Und hier beginnt das Problem mit “Calling all Nations“. Die Abgrenzung zum Sektenbereich war mehr als unklar. Sehr problematische Personen, wie der umstrittene Gemeindeleiter Wolfhard Margies, konnten unter dem Dach dieser Veranstaltung Seite an Seite mit konservativen landeskirchlichen Pastoren auftreten. Für den Berliner Sektenexperten Pfarrer Thomas Gandow besteht hier durchaus die Gefahr, recht problematische Gestalten salonfähig zu machen. Margies versetzte dem Event denn auch einen Tiefpunkt, als er im Stil eines amerikanischen TV-Predigers Spenden einwarb um das Defizit von 380.000 €, das aufgrund der geringen Teilnehmerzahl entstanden war, zumindest zu verkleinern.
Norbert von Fransecky
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