Messiaen, O. (Kim)
Sämtliche Klavierwerke, Vol. 3
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Info |
Musikrichtung:
Klavier
VÖ: 24.05.2004
Centaur / Klassik Center Kassel CD DDD (AD 2002) / Best. Nr. CRC 2668
Gesamtspielzeit: 73:06
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ZWISCHEN EKSTASE UND KALKÜL: MESSIAENS VISIONÄRE AVANTGARDE
Die Musik Oliviers Messiaens (1908-1992) beschert dem Hörer immer wieder die seltsamsten Wechselbäder und Déjà-vus. In der 3. Folge seiner Gesamteinstspielung der Klavierwerke demonstriert dies der Pianist Paul Kim, unterstützt von Matthew Kim, eindrucksvoll anhand dreier Werke bzw. Zyklen, die Messian am Anfang bzw. Ende der 1940er Jahre komponiert hat.
KOSMOS UND KREUZ: DIE VISONS DE L’AMEN
Musikalisch spannen die Visions de l’Amen (1943) für zwei Klaviere einen Bogen von der Spätromantik bis zur Neuen Musik: Messiaens Zyklus über das Amen entwirft mit pianistischer Wucht surreale Bild- und Klangwelten, die traditionelle Topoi christlicher Frömmigkeit (Schöpfung, Kreuzestod Jesu, Engel, Heilige, Gericht) mit naturmystischen Vorstellungen aus der Vogelwelt oder Astronomie verschmelzen. An der Verherrlichung Gottes in seiner Schöpfung, ein zentrales Thema in der Musik Messiaen, ist im Amen der Sterne und des Ringplaneten (Saturn) der ganze Kosmos beteiligt. Milde Sphärenklänge darf man dort nicht erwarten: Die Sterne rotieren in einem wilden Tanz, das Universum ist bei Messiaen von herrlicher und schrecklicher Schönheit. Freude und Ehrfurcht gehören in der religiösen Welt des Komponisten unbedingt zusammen. So schwelgt der Komponist dann beim Amen du Désir, dem Amen des Begehrens, ebenso unverhohlen in den allersüßesten Empfindungen. Messiaen verwendet das Klavier wie ein Miniaturorchester, wenn er durch geschickte Ausnutzung der Register und entsprechende Harmonisierungen die Klangfarben von Streichern, Blech- oder Holzbläsern, Glocken, Gongs und selbst die wuchtigen Resonanzen des Tamtams evoziert. Anklänge an die Gregorianik, die durch entsprechende „Modalisierungen“ à la Messiaen ausgesprochen exotisch wirken, stehen neben komplizierten rhythmischen Verarbeitungsprozessen. Einiges klingt schlicht außerirdisch, ist zugleich sinnlich und abstrakt, kontemplativ und ekstatisch. Anders meint man schon anderswo gehört zu haben: Jazziges in der Art von Gershwin, so im 5. Satz, ist wohl eher ein unfreiwilliges Nebenprodukt von Messiaens rhythmischen Forschungen, nicht weniger befremdlich ist freilich, wie in den Akkordreihungen des 7. Satzes die Promenade oder das Große Tor von Kiew aus Modest Mussorgsky Bilder einer Ausstellung anklingen, ohne dass man hier von einem Zitat sprechen könnte. Und bei manchen der frenetischen „Ostinati“ scheint sogar Carl Orff kurz vorbeizuschauen, während Debussy bei einigen harmonischen Wendungen Pate gestanden zu haben scheint.
RHYTHMUS UND STRUKTUR: DIE ÉTUDES UND CANTÉYODJAJÂ
Gegenüber der bei aller Fremdartigkeit doch immer noch sehr fassbaren, unmittelbar (an)sprechenden musikalischen Sprache der Visions schlägt der Komponist bei den Quatre Études de rythme /1949/50) und den Cantéyodjayâ (1949) sehr viel formalere Töne an. Die Beschäftigung mit der griechischen Rhythmik sowie der Reihentechnik von Schönberg, Berg und Webern haben den vier Sätzen der Études ihren Stempel aufgedrückt, bei den Cantéyodjayâ kommt noch indische Rhythmen hinzu, eine Auswahl aus den sogenannten 120 deçî-talâ. Vor allem die 2. Etüde hat Musikgeschichte geschrieben: Es handelt sich um das erste Stück, das die 12-Ton-Technik nicht nur auf die Tonhöhe, sondern auch auf die Lautstärke, Artikulation und Dauern anwendet. Messiaen-Schülern wie Boulez und Stockhausen folgten ihrem Lehrer, radikalisierten das Prinzip jedoch zugleich. Bei aller Abstraktion scheint Messiaens Stück dagegen immer noch vom Ohr her komponiert, die zerklüftete Faktur löst sich nicht wie bei den Nachfolgern in punktuelle Musik auf, die sich dann, trotz der totalen Durchorganisation, völlig beliebig anhört. Für Messiaen handelte es sich um einen kleinen Forschungsbeitrag, eine Fingerübung – mehr nicht. Er selbst hat danach niemals mehr im strengen seriellen Idiom gearbeitet, sondern sich dieser „grauen, angsterfüllten Musik“ (so der Komponist) nur noch als Ausdrucksmittel bedient, z. B. in der Introduktion zum 7. Bild seiner Franziskusoper, das die Stigmatisation des Heiligen behandelt.
INTELLEKT UND POESIE: PAUL KIM
Messiaens spirituelle „Wollust“ und seine Experimentierlust hat hier zwei überzeugende Anwälte gefunden. Paul Kim und sein junger Kollege Matthew Kim spielen diese vielschichtige Musik ausgesprochen brillant und präzise, wobei ihr metallisch klarer Anschlag durch die gute Klangtechnik plastisch abgebildet wird. Beide Pianisten betonen bei den Visions den rituellen Charakter der Musik, ohne dass die zarten, malerischen Seiten und die geforderten orchestralen Klangfarbenwirkungen darüber zu kurz kommen würden. Der umfangreiche englischsprachige Kommentar im Booklet stammt von Paul Kim und bestätigt den Eindruck, den sein Spiel hinterlässt: Intuition verbindet sich hier mit intellektueller Einsicht in das vielschichtige Wesen der Musik. Diese Reflexion dürfte all jenen Hörern entgegenkommen, denen Messiaens musikalische Mystik etwas suspekt ist und die sich mehr für seine musikalischen Expeditionen in unerforschte Regionen des musikalischen Universums interessieren.
Georg Henkel
Trackliste |
01-07 Visions de l’Amen 08-11 Quatre Études de rythme 12 Cantéyodjayâ |
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Besetzung |
Paul Kim – Matthew Kim, Klavier
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