Gluck, Chr. W. (Minkowski)
Orphée et Eurydice
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Info |
Musikrichtung:
Oper
VÖ: 17.05.2004
Deutsche Grammophon Archiv / Universal Music 2 CD DDD / AD live 2002 / Best. Nr. 471 582-2
Gesamtspielzeit: 109:22
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MINKOWSKIS GLUCK-ZYKLUS, TEIL III
GLUCK-REMAKE: AUS ORFEO WIRD ORPHÉE
Glucks französisches 1772er-Remake seines Reformopernerstlings „Orfeo ed Euridice“ (1762) ist ein eigenständiges Werk, das die „reine“ Konzeption des Ur-Orfeo nicht einfach verwässert, sondern weiterentwickelt. Der Praktiker Gluck paßte das Werk den Gegebenheiten der französischen Operntradition an, denen es mit seinen zahlreichen Chören und dem deklamierenden Stil freilich per se mehr entsprach, als dem Arienkonzert der italienischen Seria. Die Mischung stimmte offenbar: Hatte man in Wien eher mit kühlem Interesse reagiert, geriet man in Paris aus dem Häuschen. Abgesehen von der Übertragung in eine andere Sprache mußte auch die Kastratenpartie des Orfeo für einen französischen hohen Tenor transponiert werden. Das zog für die meisten anderen Teile gleichfalls Veränderungen nach sich. Gluck und sein französischer Librettist nutzten die Gelegenheit zu einer Straffung der Rezitative, die alle neu komponiert wurden und gegenüber dem Original sehr an Eindringlichkeit gewannen. Die berühmte (und wegen ihrer C-Dur-Seligkeit umstrittene) Klage des Orfeo „Che farò senza Euridice?“ stand nun in F-Dur und wurde um eine expressive Kadenz erweitert, eine weitere hochvirtuose Arie einfach aus einer älteren, konventionellen italienischen Oper Glucks eingefügt, weil der französische Sänger sich unterfordert fühlte. Auch die „reformerische“ Oper Paride ed Elena steuerte noch ein Trio bei – das Pariser Publikum kannte all diese Musik ja noch nicht. Außerdem kam Gluck nicht umhin, der französischen Vorliebe für das Ballett durch zusätzliche Nummern Rechnung zu tragen. Dabei gehören die instrumentalen Erweiterungen im Drama zu den gelungensten Einlagen überhaupt: der Tanz der Furien und der ausgebaute Reigen seliger Geister. Beim obligatorischen Schlußsballett, das wie der Furientanz aus älteren Werken zusammengestückelt wurde, handelt es sich dagegen um eine Zugabe, auf die man ruhig verzichten kann (wenngleich Minkowski und die Musiciens du Louvre sie hier hinreißend eingespielt haben).
Leider ist heute in der Regel weder die italienische noch die französische Fassung in ihrem Original zu hören. Schon im 19. Jahrhundert hat man die Versionen nach Belieben gemischt. Und wenn man sich einmal für eine Version entschied, dann meist für die - angeblich - authentischere italienische. Das hat auch praktische Gründe: Die hohe Tenorpartie der französischen Fassung ist (vor allem mit dem heutigen, höheren Stimmton), kaum noch singbar, zumal Caruso die Bruststimme beim Tenor leider zum Maß aller Dinge (auch des hohen Cs) gemacht hat.
“SCHREIEN SIE GANZ EINFACH SO SCHMERZVOLL, ALS OB MAN IHNEN EIN BEIN ABSÄGT“
Der Dirigent der hier eingespielten französischen Fassung, Marc Minkowski, ist seinem Tenor, dem Amerikaner Richard Croft, etwas entgegengekommen, indem er zum französischen Stimmton von 1772 zurückgekehrt ist. Der lag nämlich um etwa einen Ganzton tiefer. Dennoch: Wie Croft seine hochschwierige Partie mit durchweg schönem Timbre nicht nur bewältigt, sondern in jedem Moment mit wirklich ergreifendem, ungekünstelten Ausdruck zu erfüllen weiß, das ist bewundernswert und genügt eigentlich schon allein als Empfehlung für diese Live(!)-Aufnahme. Croft entgeht dem klassizistischen Klischee ebenso wie der romantisierenden Versuchung. Gleich bei seinen ersten eindringlichen „Eurydice“-Rufen scheint er sich Glucks Hinweis an seinen historischen Vorgänger zu eigen gemacht zu haben: der Sänger solle hier „schmerzvoll schreien, als wenn man ihm ein Bein absäge, um diesen Schmerz dann, wenn er könne, innerlich, moralisch und von Herzen kommend zu gestalten“. Genau das tut Croft. Sein Orphée ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, leidenschaftlich liebend und leidend, aber auch (in besagter zusätzlicher Bravourarie) vom Charisma eines Halbgottes erfüllt. Mireille Delunsch als Eurydice ist in Minkowskis Gluck-Zyklus, der mit dem Orphée in die 3. Runde geht, von Anfang so etwas die die Muse des Unternehmens gewesen. Als Armide und Iphigenie hat sie Maßstäbe gesetzt; an nuanciertem Ausdruck und Hingabe steht sie Croft nicht nach. Ein kleines stimmliches Wunder ist der strahlende Amor der zur Zeit der Aufnahme gerade einmal sechzehnjährigen Marion Harousseau, von der man gewiß noch mehr hören wird …
MINKOWSKI, DER GLUCKIST
Der Altmeister der historischen Aufführungspraxis, Nikolaus Harnoncourt, hat um Gluck immer einen Bogen gemacht, weil er dessen Musik zu simpel findet: Opern-Reform als Revolution eines Minderbegabten, sozusagen. Da ist sicherlich etwas dran. Gluck steht weder der differenzierte Affekt-Reichtum eines Händels noch die kompositorische Phantasie eines Rameau zu Gebote. Manches klingt seltsam unpersönlich, stereotyp. Ohne seine Reformopern wäre Gluck wohl nur ein musikgeschichtliches Datum geblieben. Dort ist vieles wieder genial gelöst, gerade auch in der Einfachheit der Mittel: im Orfeo/Orphée z. B. die zauberhaft duftige Klangwelt des Elysiums, die dramatische Energie der Rezitative, das „unschöne“ Schreien der Furien und Höllengeister oder die Ritual-Atmosphäre, die Gluck im Trauerakt beschwört. Und hört man Glucks Musik erst mit jener Intensität, mit der sie hier musiziert wird, dann kann man sich ihrer suggestiven Kraft kaum entziehen. Wie in den beiden Vorgängereinspielungen, der Armide und der Iphigénie en Tauride, erweist sich Marc Minkowski mit seinen Musiciens du Louvre wieder einmal als hochgradiger Gluckist. Gerade der Orphée, der in der einen wie der anderen Fassung nur allzu häufig zum Demonstrationsobjekt eines erstarrten, todlangweiligen Pseudo-Klassizismus geworden ist, bekommt hier einen hochdramatischen, theatralischen und aufwühlend pathetischen Atem eingehaucht. Geschickt balanciert Minkowskis den breiten musikalischen Pinselstrich des Komponisten zwischen affektuosem Spätbarock und atmosphärischer Frühromantik aus. Das dunkel timbrierte Orchester verleiht der Musik einen kultiviert schmutzig-rauhen Klang und ist ein reflexschnelles Fundament für die Sänger und den Chor. Leider ist das Klangbild nicht ganz so klar, wie in den beiden vorangegangenen Einspielungen.
Man kann nur hoffen, dass Minkowski wie geplant Gelegenheit bekommt, auch die beiden ausstehenden französischen Reformopern Glucks für die DG-Archiv-Produktion einzuspielen.
Georg Henkel
Besetzung |
Richard Croft (Orphée) Mireille Delunsch (Eurydice) Marion Harousseau (Amour) Claire Delgado-Boge (Un Ombre Heureuse)
Chor der Musiciens du Louvre Les Musiciens du Louvre
Ltg. Marc Minkowski
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