Dass dieses Album von der Kritik mit Argusaugen betrachtet würde, war abzusehen. Nicht nur, um zu sehen, ob die Bärte den Ausstieg ihres Masterminds Neal Morse verkraftet haben. Immerhin legt hier eine der wichtigsten Referenzbands im Proglager ein neues Werk vor. Und mit dem Vorgängeralbum "Snow" hatte man sich die Latte in atemberaubende Höhe gelegt.
Um es von vorneherein zu sagen. Den Überflieger zu erreichen, oder gar zu toppen, ist nicht gelungen. Der legitime Nachfolger von "Snow" heißt nicht "Feel Euphoria". Der legitime Nachfolger hätte Sid heissen können. Der Longtrack, der die zweite Hälfte der CD einnimmt, kann sich in jeder Hinsicht mit dem genialen Doppelalbum messen. Bei der ersten Hälfte von "Feel Euphoria" lässt sich dagegen der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass es sich zumindest teilweise um Schnellschüsse handelt, um möglichst schnell nach dem aufsehenerregenden Ausstieg von Morse mit einer CD-Veröffentlichung zu beweisen, dass die vier Rest-Bärte auch allein in der Lage sind, Spock's Beard fortzuführen.
In der ersten Hälfte der CD vermögen eigentlich nur zwei Stücke vollständig zu überzeugen: "Shining Star", mit dem sich die Amerikaner äußerst gelungen und bodentief vor den Göttern Pink Floyd verneigen und "Ghost of Autumn", dessen ruhige Stimmung erstaunlicher Weise an das "Bahnhofskino" von BAP erinnert.
Ansonsten fehlt den Tracks durch die Bank der rote Faden. Übergänge kommen unvermittelt und oft wenig schlüssig. Tiefpunkt ist das richtungslose "Feel Euphoria" mit seinen merkwürdigen Soundspielerein. Lediglich die Keyboard- und Gitarren-Soli im letzten Drittel lassen die Kinnladen herunter klappen und rechtfertigen den Titel beeindruckend, aber eben nur zum Teil.
So wird der Titeltrack zum Symboltrack des Albums. Ob kraftvolle Smasher ("Onomatopeia"), das ruhigere "The Bottom Line" mit seinen durchaus erhebenden Momente oder das nicht uninteressante "East of Eden, West of Memphis" - überall gibt es Momente, die aufhorchen lassen und bei einer "normalen" Band als Glanzlichtern bezeichnet würden, bei Spock's Beard aber eher Enttäuschung hervorrufen.
Und dann ändert sich das Bild schlagartig und grundlegend.
Schon das Intro von "A Guy named Sid" verbindet ruhige und kraftvolle Elemente mit überzeugenden Breaks und schlüssigen Übergängen und eröffnet ein 20-Minuten-Opus, das locker die von "Snow" vorgegeben Qualität hält.
Wenn Nick D'Virgilio dann mit "Same old Story" das Wort ergreift, überzeugt der singende Drummer mit kraftvollem Ausdruck. Mit "You don't know" folgt eine überzeugenden Ballade, die sich zum Ende hin mächtig aufbäumt, um zu dem heftigst rockende "Judge" überzuleiten - nur eins von mehreren Stücken, die die Fahne des deutlich härter gewordenen Kurses von Spock's Beard in den Wind halten. Ryo Okumoto nutzt die Chance um seinem großen Vorbild Keith Emerson ausgiebig zu huldigen. Ein kurzes vielstimmiges Acapella leitet über zum großen Finale, das mit "Change" äußerst passend überschrieben ist. Kraftvoll startend geht das Stück in eine ruhige Hymne über. Die atmosphärischen Gitarren heben die Seele in ein besseres Jenseits empor. Eindrucksvoll unterstütz von floydigen Background-Chören.
Danach möchte man die Hallballade "Carry on" eigentlich gar nicht mehr hören. Das Miteinander von sehr schönen Momenten und überladenem Kitsch, der bestens in zu den "romantisch"-dramtischen Höhepunkten amerikanischer Leinwandepen passen würde, gehört eher in die erste Hälfte der CD.
...und "Feel Euphoria" gehört natürlich trotz der Schwachpunkte in jede ernst zu nehmende (Prog-)Sammlung.
16 von 20 Punkte
Norbert von Fransecky
Internet: www.insideout.de
|