Interpretation: ++++
Klang: ++++
Edition: +++++
PROVKANT: CARMEN ALS "BLAUER ENGEL"
"Carmen" ist ungebrochen populär und häufig gespielt. Die vielen tausend Inszenierungen haben ein Bild der Hauptfigur geprägt,
von dem wir uns nur schwer lösen: Das der schwarzhaarigen, im roten Kleid auftretenden, heiße Blicke werfenden Zigeunerin, die die
Männer mit ihrer Schönheit becirct und umgarnt - und die noch dazu schöne, folkloristisch angehauchte Liedchen singt.
Was aber, wenn Carmen ganz anders wäre? Eine reife, starke, selbstbewußte Frau, deren Freiheitsliebe die Männer gleichermaßen
anzieht, wie irritiert, eine Frau die ihre eigenen Entscheidungen trifft, die Hohlheit mancher männlicher Riten entlarvt, die
keine Lieder trällert, sondern zischelt, schreit, faucht und allenfalls mal zum eigenen Vorteil den Ohren anderer schmeichelnde
Melodien darbietet? Eine Frau, wie jener "Blaue Engel", den Marlene Dietrich unnachahmlich verkörperte?
Carmen, zigeunerinnenfeurig-luderklassisch
Was dann passiert, hat man letztes Jahr beim Festival in Glyndebourne und anschließend in den Kritiken beobachten können:
Dann herrscht auch heute noch Irritation, dann brechen Oper(schein)welten zusammen, dann ereifert man sich ob des nicht nur
schönen Gesangs und vermeintlicher stimmlicher Schwächen.
Letztere nämlich wurden Anne Sofie von Otter anschließend nachgesagt. Doch zu Unrecht: Die Schwedin tut, was die Bühne verlangt - sie schauspielert mit ganzem Einsatz, auch unter Einsatz aller Mittel der Stimme, aller Register, Farben, Geräusche und Verfremdungen.
Natürlich ist ein kätzisches Fauchen kein Wohlklang, aber wohldosiert und wohlplaziert eingesetzt, verfehlt es sein Wirkung nicht und
hier zeigen sich die Möglichkeiten des Mediums DVD: Während man solche Effekte auf einer CD abstoßend oder unangenehm
empfinden müßte, weil ihr Hintersinn sich nicht unmittelbar erschließen würde, bereiten sie durch die optische Wahrnehmbarkeit des Geschehens ein um so größeres Vergnügen. Wer nämlich das Spiel dazu sieht, den können die "Stimmgeräusche" kaum mehr überraschen, ja, er
wird sie als integralen, notwendigen Bestandteil einer lebendigen, mehr spielfilmartigen Inszenierung begreifen.
Dazu trägt auch bei, dass für diese Einspielung die dialogische Ursprungsfassung der Oper zugrunde gelegt wurde. Während
auf der Bühne heute oftmals noch die Fassung mit den nicht von Bizet, sondern nachträglich von seinem Freund Guiraud
erarbeiteten, teils sinnentstellenden, teils den Handlungsfluß hemmenden Rezitativen zu sehen ist, wird hier zum gesprochenen
Dialog zurückgekehrt. Ein glasklarer Vorteil.
FAST WIE IM FILM: DIE DYNAMISCHE INSZENIERUNG
Eine intensive, ungemein lebendige Art der Darstellung zeichnet die Einspielung insgesamt aus. Das oftmals zusätzlich unterteilte,
raumschaffende Bühnenbild und die stringente Personenführung des Regisseurs David McVicar, der liebevoll jedes Detail des
Stoffes klug ausgedeutet hat, lassen keinen Platz für sentimentales Operngesäusel. Hier geht es um große Leidenschaften, Emotionen, Schicksale. So schnell, wie Bizet die Ohrwürmer aufeinander folgen läßt, so schnell und dicht läßt auch diese Inszenierung das Geschehen ablaufen. Die Bildregie fängt all das raffiniert und flexibel ein, der Zuschauer wähnt sich mitten im Geschehen. Erstmals wieder verfolgt man so eine "Carmen" gebannt, nimmt Anteil, leidet mit und feiert mit.
Dies - wie gesagt - nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin, die endlich einmal ihr schauspielerisches, auch komisches Talent nach
Herzenlust ausleben darf. Manch eine Geste und Miene mag dabei zu grell, zu maniriert scheinen, doch insgesamt entwickelt von Otter eine "Carmen", deren Verhalten nicht mehr Willkürlichkeit und Aufgesetztheit ausstrahlt, sondern überzeugend aus den Lebensumständen folgt.
NICHT ALLE IM ENSEMBLE HALTEN MIT ...
Als wirklich ebenbürtig erweist sich allein Laurent Naouri. Konsequent, spielt er doch jenen Liebhaber, dem sich Carmen schließlich
zuwendet, als sie Don José den Laufpass gegeben hat. Naouri gibt wahrhaft einen feurigen, stolzen Stierkämpfer ab, aber keinen in
der Art jener oft zu erlebenden Witzbudenfiguren, sondern einen Mann, der aufgrund eigener Stärke vielleicht hoffen darf,
es mit Carmen aufnehmen zu können. Der Franzose singt druck- und glutvoll, ohne in theatralische Schmalzigkeit abzudriften.
Mittelmaß ist es, was Don José repräsentiert und in ähnlicher Weise wird er uns auch hier präsentiert: Marcus Haddock scheint
stimmlich nicht ganz auf der Höhe gewesen zu sein, hat ab und an Schwierigkeiten, sich gegen das Orchester durchzusetzen. Kurioserweise
erscheint das für den Zuschauer aufgrund seiner Rolle als Muttersöhnchen, das dem rauhen Leben und erst recht dem rauhen Charme
einer Carmen kaum zu trotzen vermag, nicht einmal als gravierendes Manko.
Eine bessere Figur gibt Lisa Milne als Don Josés brave Braut Micaela ab: Sie steigert sich deutlich von Auftritt zu Auftritt und das zu
Beginn noch allzu heftige Vibrato verliert sich, so dass sie am Schluß verdientermaßen einige "Bravo"-Rufe entgegennehmen kann.
Ein solides Glyndebourne-Debüt hat mit dieser Aufführung Philippe Jordan am Dirigentenpult abgeliefert: Er ist nicht
um knallige musikalische Effekte oder Originalität bemüht, sondern gibt sich damit zufrieden, jeder romantisierenden Betrachtung durch
zügige Tempi und klare Akzentsetzungen entgegenzuwirken.
EXTRA-FEATURES EN MASSE
Auf den 2 DVDs findet sich neben der Oper samt Untertiteln eine Reihe zusätzlicher Beiträge: So ein hübscher Bericht über Glyndebournes Gärten und die durch sie geprägte
Festivalatmosphäre, aufschlußreiche Erläuterungen des Regisseurs zu seiner Sicht der Oper und der Charaktere, Interviews mit
Kostümbildner, Choreograph und anderen hinter der Bühne mitwirkenden Personen.
So macht DVD-Technik nicht nur Sinn, sondern auch Spaß.
EIN FEST FÜR DIE SINNE!
Diese Einspielung ist sicherlich ein Highlight auf dem schnell wachsenden Opern-DVD-Markt, ein Augen- und fast durchgehend auch
ein Ohren-Schmaus erster Klasse, den sich kein Opernfreund entgehen lassen sollte.
18 Punkte
Sven Kerkhoff
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