Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: +++++ (üppiges, reich illustriertes Booklet, leider nur engl. / franz.)
TARANTULA
Tarantel: kleine Spinne; Vorkommen im ehemaligen Königreich von Neapel (vor allem beim Ort Taranto / Apulien). Der Biss soll die Betroffenen sehr benommen oder bewußtlos machen, kann aber auch tödlich sein. Man sagt, das Gift der Tarantel ändere seine Beschaffenheit von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde und wirke sich auf die Leidenschaften der Gebissenen aus: einige singen, einige lachen, einige weinen, andere wiederum schreien unaufhörlich, einige schlafen, während andere überhaupt nicht schlafen können, einige erbrechen sich, andere schwitzen oder zittern, schließlich fallen einige in pausenlosen Schrecken oder in Raserei, bekommen Wutanfälle und gebärden sich wie Furien. Das Gift bewirkt außerdem eine Leidenschaft für bestimmte kräftige Farben: grün, rot, gelb. In einigen Fällen soll die Krankheit schon 40 oder 50 Jahre gedauert haben!
Aber es ist ein Gegengift bekannt: Musik erweckt die Lebensgeister der Befallenen, die dann ein unstillbares Bedürfnis nach Bewegung haben.
(aus: Antoine Furetière, Dictionaire universel, 1690)
Nur 3,5 cm groß, unagenehmer, aber harmloser Biss ... der Ruf ist trotzdem ruiniert!
DAS (UNWIDERSTEHLICHE) GEGENGIFT: LA TARANTELLA
Heiliger Volks- und Aberglaube! Hört man das wohlfeile musikalische Gegengift, das hier von den famosen Sängern Lucilla Galeazzi, Marco Beasley und Alfino Antico zusammen mit dem Ensemble L'Arpeggiata auf CD gebannt worden ist, dann bleibt eigentlich nur eins übrig: beißen lassen!
Rund 50 Minuten geht es durch südliche Landschaften, mit Traditionals aus Portugal und Neapel, aus Kalabrien oder Rom oder ... Mit allem, was man an alten Instrumenten klampfen und zupfen kann: Harfe, Theorbe, Gitarre, Chitarra, Psalter, Lira. Und mit allem, was bei Bedarf für den nötigen Rhythmus sorgt. Die Quellen dieser Musik, von Erika Pluhar akkribisch recherchiert und arrangiert, stammen aus dem Barock oder der modernen Musikethnographie. Ihre Revitalisierung geriet schlichtweg ideal: mit Sängern, die die aus der traditionellen Volksmusik kommen (ein kleines Liebeslied des Sizilianers Alfio Antico, während der Aufnahme auf dem Küchentisch entstanden, wurde einfach gleich mit in die Produktion übernommen), lustvoll improvisierend, mal unheimlich archaisch, mal melancholisch, dann wieder mittagsmüde-schwer oder, weils dem Kranken ja guttut, auch mal temperamentvoll bis zum Exzess.
Tarantel- und Tarantella-Forscher des 17. Jahrhunderts: der Jesuit Athanasius Kircher (dessen Forschungsergebnisse auch auf der vorliegenden Aufnahme zu Gehör gebracht werden!)
Dass diese Platte bei amazon.de in der Pop-Abteilung gelandet ist, wundert mich nicht.
20 Punkte
Georg Henkel
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