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Klang: +++++
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MUSIK AUS DEN BERGEN
In einer Bar in der Gascongne, Südfrankreich. Man sitzt oder steht zusammen, Glas um Glas macht die Runde. Irgendwann läßt sich der Drang zum gemeinsamen Singen nicht mehr unterdrücken. Ein Thema, über das sich stets singen läßt, ist die Liebe, natürlich. Die Texte, altbekannt, mischen Motive aus der Mythologie und aus der ländlichen Lebenwelt: Geschichten um junge Männer und Mädchen, Geschichten aus alter Zeit, um Hirten und Ritter, um Liebhaber und Geliebte, um Treulose und Eifersüchtige. Wer sie erfunden hat? Wohl derjenige, der sie zum ersten mal gesungen hat. Einige Poeten mögen bekannt sein, doch wen kümmert das? Die Erfahrungen und Geschehnisse, die in diesen Dichtungen aufbewahrt sind, gehören allen. Darum werden sie auch von allen gemeinsam gesungen. Fragt man nach, werden die ältesten Sänger sagen, dass schon ihre Väter und Großväter so gesungen haben. Und von denen hätte man das gleiche hören können ...
MUSIK WIE DER WIND
Eine erste Stimme hebt an, eine weitere steuert die Oberstimme dazu bei, eine dritte formt den Bass. Dies allen nach den festen, mündlich tradierten Regeln. Denn diese Musik existiert nur im Moment des gemeinsamen Singens. Weitere Stimmen fügen sich zu diesem dreistimmigen Nukleus, singen, je nach Vorliebe oder Vermögen, den Hautas (Oberstimme), den Normalas (Mittelstimme) oder den tiefen Baisbas mit. Man hört eine konsonante und wohklingende Mehrstimmigkeit. Die Musik ist choralartig, mit kantigen, klaren Rhythmen, ohne Schnörkel. Mit ihrem kargen, manchmal rauhen Charakter passt sie in die Bergwelt der Pyrenäen. Subjektive, persönliche Äußerungen haben hier keinen Platz. Die Emotionen werden durch das strenge Auf und Ab der Stimmen und die modale Harmonik gebändigt. Wenige melodische Formeln und ein Refrain genügen. Man muss sich schon hineinhören, um die subtilen Stimmungs- und Farbwechsel mitzubekommen. Wer auf das klassische Dur-Moll-System konditioniert ist, wird mit einer fremd
n Welt konfrontiert. Ist diese Musik fröhlich oder traurig? Weder noch. Sie ist ein wenig wie der Bergwind. Und sie berührt in ihrer kunstvollen Kunstlosigkeit, in ihrer Hingabe an jenen magischen Augenblick, in dem der Klang von drei Stimmen mehr ist als nur die Summe seiner Teile.
Der Name des Ensembles Balaguèra spielt wohl nicht umsonst auf den gleichnamigen kräftigen Südwind und - in zweiter Bedeutung - auf eine innere Erregung und Unruhe an. Bei den elf Sängern der Gruppe spürt man durchweg die innige Vertrautheit mit dieser fremdartigen Musik. Balaguèra singt die traditionelle Mehrstimmigkeit aus den französischen Regionen an der Grenze zu Spanien unprätentiös, mit kontrollierter Emphase: zugleich ausdrucksvoll und geradlinig, unsentimental und doch klangschön. Die Lieder haben nichts Einstudiertes, sondern sind authentischer Ausdruck einer ununterbrochenen Tradition und eines ungebrochenen Lebensgefühls.
Rund 50 Minuten Musik für Neugierige.
14 Punkte
Georg Henkel
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