Interpretation: ++++/+++++
Klang: +++++
Edition: ++++
SENSATIONELLES RE-DEBUT
Mit Superlativen sollte man in unserer event-besessenen Zeit, wo inzwischen irgendwie irgendwo und irgendwann alles "hip", "geil" oder "cool" ist, besser sparsam umgehen. Aber in diesem Fall mag ich mich nicht zurückhalten: Diese CD mit dem jungen Countertenor Max Emanuel Cencic ist ein sensationelles Debut. Oder sollte man vielleicht besser sagen: "Re-Debut"? Denn Cencic trat schon mit sechs Jahren im Fernsehen auf: mit einer Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte! Bis 1996 sang er in zahlreichen Konzerten, war für einige Jahre Mitglied der Wiener Sängerknaben und arbeitete mit prominenten Dirigenten wie George Solti oder Nikolaus Harnoncourt zusammen.
Aufsehen erregte Cencic damit, dass er, stimmtechnisch speziell geschult, auch noch nach dem Stimmbruch in der Sopranlage singen konnte. Diese "Künstlichkeit" prädestinierte ihn für das barocke und (früh)klassische Repertoire: Händel, Bach, Haydn. Ich kenne Aufnahmen mit Cencic vom Anfang der 90er Jahre: eine faszinierend hohe, charakteristisch gefärbte Stimme, kraftvoll und ausdrucksgeladen, dabei allerdings auch nicht frei von einer gewissen angespannten Künstlichkeit.
ALLES STIMMT: TIMBRE, KRAFT, FÜLLE, AUSDRUCK UND VIRTUOSITÄT ...
Nach einer freiwilligen Pause und einer künstlerischen Neubesinnung kehrte Cencic dann im Jahr 2000 als Countertenor zurück.
Es scheint ganz so, dass er nun in seinem Fach angekommen ist. Die einstige "Künstlichkeit" klingt jetzt vollkommen natürlich. Im ersten Moment vermeint man, einen ausgewachsenen Mezzosopran zu hören - wäre da nicht jene markant-herbe Färbung, der so gar nicht zu einer weiblichen Stimme passen will. Cencics Stimme hat einen erstaunlich großen Umfang, die Verblendung der hohen, mittleren und tiefen Register, bei Countertenören häufig ein Problem, gelingt wunderbar natürlich. Viele Contertenöre erreichen zwar eine erstaunliche Höhe, doch fehlt ihnen in der tiefen Lage - unerläßlich insbesondere für das Rezitativ - meist ein Gegengewicht. Da sprechen die Töne nur ungenügend an, so dass manche Stimme regelrecht verhaucht.
Nicht so bei Cencic. Seine Kraft in der Höhe wie in der Tiefe ist beeindruckend, nicht minder sein Vermögen, die Stimme durch überlegt eingesetzte Farbwechsel zum dramatischen Ausdrucksträger zu machen. Androgynität ist hier nicht gleichbedeutend mit "geschlechtslos", im Gegenteil. Da wird nicht einfach nur auf eine elegisch-schöne Tongebung oder den (Abnutzungs)Effekt brillanter Spitzentöne vertraut. Wie Cencic das "Risponderò, crudel, tiranna, ingrata" (Ich werde Dir antworten, Grausame, Tyrannin, Ehrlose!, Track 4) herausschleudert: in höchster Erregung, gekränkt, hasserfüllt. Mit einer hysterischen "affection" (wie man das im Barock nannte), wie sie den meisten Sängerinnen eben nicht zu Gebote steht. Lediglich in den lyrischen Passagen wünscht man sich da gelegentlich noch mehr Ruhe und Sanftheit.
Dazu kommt eine bemerkenswerte Virtuosität - und das meint mehr, als die nur technisch saubere Bewältigung der Koloraturen und Verzierungen. Cencic heult sich nicht, wie man es dann doch manchmal bei einigen seiner Kollegen hören kann, durch die Teilungen. Die mitreißende "Künstlichkeit" seines Organs ist Ausdruck großer Gesangskunst. In der Verbindung von Schönheit und Kraft des Timbres, technischer Geläufigkeit und differenziertem Ausdruck ist Cencic schlechthin überragend.
... UND SOGAR DAS ORIGINELLE PROGRAMM
Dass er sich dafür entschieden hat, statt der üblichen Händel-Hits (Ombra mai fú, Cara sposa ...) kaum bekannte, aber musikalisch auf der Höhe stehende Kantaten von Domenico Scarlatti aufzunehmen, spricht für sein künstlerisches Format. Dabei wird er vom Ensemble 99 angemessen unterstützt. Die dominanten Blockflöten sorgen dabei je nachdem für eine funkelnde oder mattschimmernde Politur. Am überzeugendsten geraten Cencics Begleitung die schnellen Stücke, während die Musik in den langsamen Passagen auch schon mal Fäden zieht.
FEHLGRIFF: DAS COVER
Bleibt noch eins: das Cover. Die Ramsch-Ästhetik in Pink, Rüschenweiß und Rokokostuck paßt nun gar nicht zum hervorragenden Inhalt. Da soll wohl ein randgruppenkompatibles Image irgendwo zwischen Pop-Star und Schlagersänger suggeriert werden. Bei aller Aufgeschlossenheit für neue Wege der Klassikvermarktung: Liebhaber wird das eher abschrecken. Und ob die anderen Käufer das bekommen, was sie erwarten?
18 Punkte
Georg Henkel
|