Interpretation: ++++/+++++
Klang: ++++
Edition: +++++
DAS ORIGINAL: BIBLISCHER BLUTRAUSCH
Gegen die israeltische Königin Athalia nimmt sich Shakespeares Lady Macbeth wie ein sanftes Lämmchen aus: in einem hemmungslosen Macht- und Blutrausch rottet Athalia ihre eigene Sippe aus - den Ehemann, die eigenen Söhne und deren Kinder inklusive, denn die könnten ihr als legitime Nachkommen von König David gefährlich werden. Nur ein kleines Kind entgeht ihrer größenwahnsinnigen Raserei: Joas, der zukünftige König. Über ihn wird Athalia schließlich stürzen. Und über ihren Abfall von Jahwe, den Gott Israels. Denn um ihre Position zu sichern, hat Athalia die götzendienerischen Baalspriester an die Macht gebracht.
Das Alte Testament (genauer 2 Kg 11, 1-22 u. 2 Chr 22, 10-12. 23, 12-15) erweist sich in der Schilderung dieser Ereignisse wieder einmal als eine geradezu nüchterne, lakonische Chronique Scandaleuse, der nichts Menschliches - und seien es auch die niedrigsten Antriebe und Machenschaften - fremd ist. Dass Jahwe-Gott sich am Ende als der wahre Gerechte und Siegreiche erweisen wird, dass er Frevler und Feinde vernichten wird, steht für die Verfasser außer Frage. Vielleicht können sie deshalb so gelassen über Athalias Untaten berichten ...
DAS REMAKE: FRANZÖSISCHER KLASSIZISMUS
Ganz anders das wortreiche, vergeistigte Drama "Athalie" von Jean Racine (1639-1699), dass die biblische Vorlage in die Welt des klassizistischen absolutischen Frankreichs übersetzt (pikanterweise handelte es sich um einen Auftrag von Madame de Maintenon, der Mätresse (und schließlich geheimen Ehefrau) Ludwig XIV., die im französischen Staat auch ohne Mordexzesse die innen- wie außenpolitischen Fäden zog). Die biblische Tragödie wird hier zum psychologisierten Sittengemälde.
Aber keine Bange: Auf der CD gibt es sozusagen die deutsche Readers-Digest-Version von "Athalie" zu hören, bestehend aus den eindrucksvollen Chortableaus Mendelssohns, die durch knappe gesprochene Zusammenfassungen (was in der Zwischenzeit geschieht ...) zusammengehalten werden. Das macht aus der Schauspielmusik fast schon ein Oratorium.
DIE MUSIK ZUM DRAMA: ROMANTISCHER KLASSIZISMUS, PREUSSISCH UND PATHETISCH - ABER GUT GEMACHT
Gleich zu Beginn katapultiert die Ouvertüre den Hörer mitten in das dramatische Geschehen hinein: Gegen den holzbläsersanften und harfenseligen Lyrismus des ersten Themas steht das dräuende, belchbläsergeschärfte Verhängnis des zweiten. Der (musikalische) Konflikt ist unausweichlich.
Christoph Spering und das Neue Orchester (auf historischen Instrumenten) laufen hier zur großen Form auf: mit kernigem, aufgerauhten und kontrastreichen Orchesterklang, mit vorwärtsdrängender Dynamik, schwingenden (aber nicht ausgeleierten) Bögen, ungewohnten Farben und markanten Gesten. Das ist eine musikalische Romantik ohne falsche Weihe und hohle Süßlichkeit, die mich in ihrer Direktheit mehr überzeugt als z. B. Gardiner/Mullovas kühl-brillanter Einsatz für Mendelssohns Violinkonzert (MAS 06.03, Nr. 23). Mit diesem Ansatz kommt man der Komposition bei, ohne ihr musikalisches Pathos über Gebühr zu strapazieren.
Denn das sei dann doch gesagt: Trotz vieler großartiger Momente, die an die Höhepunkte von Mendelssohns "Elias" oder "Paulus" erinnern und in denen der Komponist aus seiner Begeisterung für die großen Chorwerke von Bach, Händel und Haydn keinen Hehl macht, klingt manches sehr deutsch (um nicht zu sagen prä-wagnerisch - aber Wagner hat sich ja bei Mendelssohn auch hemmungslos bedient), sehr bedeutungssschwer, pathetisch und mitunter auch sentimental. Eine eigenartige Melange also, diese Schauspielmusik, dabei den Rahmen der Gattung durch ihr dramatisches Gewicht sprengend. Hier wird nicht nur illustriert, sondern auch ausgedeutet und dramaturgisch gewichtet. Zweitrangige "Gelegenheitsmusik" ist das auf keinen Fall!
Doch muss man sich da als Hörer erst hereinfinden. Wobei der wissenschaftlich profunde, sehr facettenreiche Essay von Norbet Bolin im Booklet schon sehr hilfreich ist. Dafür ein großes Lob. Die "preußische Romatik" unter Wilhelm IV. gewinnt hier ein sehr deutliches Profil. Wie in diesem Klima Mendelssohns Athalia-Gewächs gedeihen konnte, wird nachvollziehbar.
Ein nicht unerheblicher Reiz liegt im Kontrast von gesungenen und gesprochenen Partien. Als Sprecher überzeugt hier Dirk Schortemeyer, der die Zwischentexte emphatisch und darstellend, aber nicht überzogen präsentiert. Von seinem Vortrag profitiert auch das Melodram (Track 7), bei dem der gesprochene dramatische Text (in diesem Fall übernimmt Schortemeyer gleich mehrere Personen) musikalisch kontrapunktiert wird. Eine der interssantesten Passagen.
Nicht zuletzt die Leistungt des Chores und der Solisten, die mit jugendlichen, frischen Stimmen agieren, sorgt dafür, dass dieses Plädoyer für Mendelssohns qualitätvolle "Gebrauchsmusik" so lohnend ausgefallen ist. Bedauerlicherweise leidet der Klang insgesamt unter dem niedrigen dynamischen Aufnahmepegel und der spröden Akkustik.
Fazit: Ein "Nebenprodukt" in beachtlicher Interpretation - 15 Punkte
Georg Henkel
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