In Zusammenarbeit mit dem Kultursender arte hat der Reclam Verlag das dreibändige
Rock-Lexikon „Rock Klassiker“ herausgegeben. Die Reduktion auf 122 Artikel (mit insgesamt mehr
als 1.500 Seiten) macht deutlich, dass es hier nicht um Vollständigkeit gehen kann. Exemplarische Artikel
sollen ausführlich Einblick geben in die Geschichte der Musik, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
geprägt hat. Dass bei der geringen Anzahl berücksichtigter Bands jeder Leser Namen vermissen wird, die
ihm wichtig erscheinen, ist nicht zu verhindern. Dennoch wirft die Auswahl Fragen auf. Warum in einem
Rock-Lexikon die Prinzen, Herbert Grönemeyer und Sven Väth mit eigenen Artikeln vertreten sind, während
Genre-bestimmende Bands wie Uriah Heep, Toto, Yes, Black Sabbath, ZZ Top, Chicago, Kiss, Mike Oldfield,
Rush, Motörhead, Supertramp und Iron Maiden fehlen, ist nur schwer nachvollziehbar.
Auch die Art und Weise der Darstellung wird nicht jeden Rock-Fan befriedigen. Auf der einen Seite ist ein
Rock-Lexikon herausgeben von zwei großen Namen im bundesdeutschen Kulturleben ein erfreulicher Schritt
hin zur Anerkennung der Rock-Musik als „richtiger“ Kultur. Andererseits gehen die Autoren recht kopflastig
an die „Bauchmusik“ Rock heran und werden so den Dimensionen, in denen die Faszination dieser Musik
wurzelt, nur begrenzt gerecht.
Auch die vorgenommenen Bewertungen sind immer wieder ärgerlich. Als Beispiel mag der Artikel
„Kraftwerk/ Can“ dienen. Dass Bands wie Tangerine Dream, Kraftwerk und Can wichtige Bands in
der Krautrock-Szene gewesen sind, wird niemand bestreiten. Wenn die Szene aber auf diese Bands
reduziert wird, ist das ein Urteil, dass einen elitären und teilweise recht abgehobenen Seitenzweig
verabsolutiert. Dass das von den Autoren durchaus so gemeint ist, wird deutlich, wenn Eloy, Jane,
Grobschnitt, Guru Guru, Hoelderlin, Novalis, Anyone's Daughter oder Triumvirat vollständig totgeschwiegen
bzw. in Bausch und Bogen als Bands verunglimpft werden, „die notenreich und gedankenarm die
angloamerikanischen Vorbilder imitierten“ (S. 776). Man zeige mir bitte die "angloamerikanischen
Vorbilder" für Jane oder Guru Guru.
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Birth Control, die mit „Gamma Ray“ immerhin
einen der wichtigsten Hits der ganze Szene geliefert haben, werden in einem dahingeworfenen Nebensatz
als „musikalische Katastrophe“ (ebd) abqualifiziert. Diese Krautrock-Bands werden sicher nicht jedem Can-Fan
zusagen, aber sie haben das Rückrad der Szene gebildet und phantastische Alben, die bis heute
zu recht als Klassiker verehrt werden, eingespielt.
Die Kurzbiographien der sechzehn Autoren lassen erahnen, woran die „Rock-Klassiker" kranken.
Ein 35-jähriger Lyriker und Vormärz-Experte, ein 36-jähriger Germanist und Historiker und ein ebenfalls
36-jähriger Doktor der Literatur sind die Nesthäkchen des Kollektivs. Ansonsten liegen die Geburtsdaten
in den 50-ern und wenn neben akademischen Graden überhaupt musikalische Daten in den Biographien
stehen, führen sie zumeist in den Jazz oder frühe blueslastige Rockbereiche. Im Vergleich zu den Bereichen, in denen Rockmusik lebt, ergibt sich das Bild des überalterten Elfenbeinturms,
der sich gnädig in die Niederungen der Kultur hinabneigt und von seinem schmerzenden Rücken schnell wieder
in die Schranken gewiesen wird.
Wer sich für Rockmusik der 50er, 60er und 70er interessiert, wird von den „Rock-Klassikern“ recht
gut versorgt. In den Folgejahren sind aber überwiegend die Trends aufgenommen, die direkt auf dem Vergangenen
fußen. Damit folgen die „Rock Klassiker“ weitgehend der Redaktionslinie des deutschen „Rolling
Stone“. Im Einklang mit dieser wird der 70er Jahre Art-Rock, oder Prog-Rock, weitgehend ignoriert.
Dafür wurden überraschenderweise einige kommerziell erfolgreiche Hard Rock- /Metal-Acts (AC/DC,
Alice Cooper, Guns n' Roses, Metallica, Scorpions, Van Halen) und sogar die Hardcoreler Sonic Youth
aufgenommen.
Im Bereich der Rock-Lexika sind die „Rock-Klassiker“ zweifelsohne eine Bereicherung. Was über
die behandelten Bands geschrieben wird, hat Hand und Fuß und ein die Konkurrenz leicht in den Schatten
stellendes sprachliches Niveau. Im Raum bleibt allerdings die Frage, ob eine niveauvolle Behandlung des
Phänomens Rockmusik nicht auch auf eine weniger elitär und voreingenommene Art hätte vorgenommen
werden können.
Positiv zu vermerken sind die ausführlichen Register, die nicht nur Bands/ Interpreten, sondern auch Alben
und einzelne Songtitel verzeichnen, die im Lexikon erwähnt werden.
Rock-Klassiker
Hg.: Peter Kemper
3 Bände in Kassette
1587 Seiten, 59 Fotos
2003, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
in Zusammenarbeit mit arte Deutschland TV GmbH
ISBN 3-15-030027-4
34,90 Euro
Norbert von Fransecky
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