Hendrix, Holzhammer, Homosexualität: Benjamin Brittens „A Midsummer Night’s Dream“ an der Leipziger Musikhochschule




Info
Künstler: Benjamin Britten

Zeit: 02.06.2022

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Fotograf: Siegfried Duryn

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

Wie so viele andere Dinge in der Kulturwelt hatte auch das alljährliche große Opernprojekt der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ virusbedingt zwei Jahre brachliegen müssen, was für die Öffentlichkeit zugängliche Aufführungen betrifft – 2022 kann es nun endlich wieder über die Bühne gehen. Die Wahl fiel auf einen Klassiker des 20. Jahrhunderts, nämlich „A Midsummer Night’s Dream“, Benjamin Brittens Umsetzung eines Shakespeare-Stücks, 1960 in Aldeburgh uraufgeführt. 18 Jahre zuvor hatte es im Kontext der Opernprojektreihe schon einmal Britten gegeben, nämlich „The Turn Of The Screw“, aber von anno damals ist natürlich kein Student mehr dabei und auch aus der sonstigen Kreativfraktion niemand – lediglich im Technikerteam finden sich einige Namen von „Altgedienten“.
Wer das Shakespeare-Original kennt, weiß, dass es zunächst in Athen spielt, dann in einem Wald vor der Stadt und schließlich wieder in Athen. Britten hat das Stück etwas komprimiert, verzichtet auf den Athen-Auftakt und bestreitet das Gros seiner Handlung im Wald, lediglich den hinteren Teil des 3. Aktes in die Stadt verlegend. Regisseurin Karoline Gruber, an der Hochschule Nachfolgerin von Matthias Oldag, verzichtet allerdings auch auf umfangreiche Umbauarbeiten für diesen letzten Teil, führt nur zwei kleine Ergänzungen ein und nutzt das grundsätzliche Bühnensetting ansonsten kurzerhand für die gesamte Handlung, was eine gewisse Unspezifizität bedingt, die aber keineswegs stört. Schauplatz ist hier ein Vergnügungspark (die Regisseurin als Österreicherin hat an den Prater gedacht), allerdings ein nicht mehr in Betrieb befindlicher, von dem noch ein paar Bauteile und Requisiten herumliegen, dessen Areal sich ansonsten aber die Natur zurückzuerobern im Begriff ist.
In diesem Bald-wieder-Wald treffen also die bekannten Welten der Menschen und der übernatürlichen Wesen aufeinander, wo die Elfen-Ehekrise zwischen Oberon und Titania zunächst die zwischenmenschlichen Krisen befeuert, bevor nach einigen Irrungen, an denen der Kobold Puck nicht ganz unschuldig ist, die beiden „richtigen“ Menschenpaare zueinanderfinden, und sich nach einer großen Mehrfachhochzeit in Athen, da auch das dortige Herrscherpaar heiratet, letztlich auch die Ehekrise im Elfenreich in Wohlgefallen auflöst. Soweit die Shakespeare-Theorie, die Britten und sein Lebensgefährte Peter Pears, die für das Opernlibretto verantwortlich zeichneten, auch nicht angetastet haben. Dieser „Job“ bleibt, wie im heutigen Regietheater nicht ungewöhnlich, dem Regisseur bzw. der Regisseurin vorbehalten, und auch aus den Hochschulinszenierungen erinnert man sich da an mancherlei geglückte, aber auch an mancherlei mißlungene Um- bzw. Abwandlung. Das Programmheft bringt neben Zeichnungen und kurzen Kommentaren von Vannina Horbas, die zur Erhellung der Lage eher wenig beitragen, zwei Seiten Inhaltssynopse, zwei Seiten mit grundsätzlichen Überlegungen von Britten und drei Seiten Interview mit der Regisseurin, alles übrigens in einem Schriftgrad, den man auch bei eher schummriger Beleuchtung im Saal noch problemlos lesen könnte. Brittens Äußerungen sind für die Fixierung der Basis sehr nützlich, Gruber wiederum erklärt zum ersten das Setting im den Namen Dream Park tragenden Vergnügungspark, zum zweiten die Aspekte der Traum- bzw. übernatürlichen Welten und zum dritten den Faktor der Homosexualität, den der Indian Boy verkörpert, Grund für den Ehestreit zwischen Oberon und Titania, weil ihn beide begehren, wobei Oberon auch am griechischen Herrscher interessiert sein soll. Was im England von 1960 nur angedeutet werden durfte, sollte ein reichliches halbes Jahrhundert später eigentlich unproblematisch sein – theoretisch zumindest. Praktisch tappt Gruber in die alte Falle, Homosexuelle eben nicht als die ganz normalen Wesen darzustellen, die die meisten von ihnen gern sein wollen. Theseus ist in einem grundsätzlichen Gothic-Rahmen leicht SM-angehaucht konzipiert, der Indian Boy entzieht sich tatsächlich jeder Zuordnung – aber Oberon kommt als Dragqueen daher, also ein kaum übertreffbares Klischeebild für alles, was jenseits von Heterosexualität liegt. Nimmt man in der endlosen Schauspielszene des dritten Aktes noch den eher verkrampften queeren Marilyn-Monroe-Verschnitt hinzu (im Original die Rolle von Peter Pears und damit das „Nur-andeuten-Könnend“ im seinerzeitigen England auf eine neue Ebene hebend, hier 60 Jahre später aber den großen Holzhammer schwingend), zeigt sich eine eher verkrampfte Herangehensweise an dieses Thema, damit Probleme aufwerfend, die man nicht hätte haben müssen. Es kommt aber noch schlimmer: Zum gedanklichen Hintergrund der Puck-Darstellung (schwedische Kinderakrobaten) äußert sich Britten im Programmheftzitat ausführlich, Gruber wiederum betont dessen totale Freiheit in verschiedenen Komponenten. Unglücklicherweise nimmt sie die zum Anlaß, ihn im Stile eines ADHS-Patienten im fortgeschrittenen Stadium und mit abgesetzten Medikamenten zu zeichnen. Das alles ist enorm schade, denn in anderen Komponenten zeigt die Regisseurin durchaus, dass sie genau beobachten und Klischees an den richtigen Stellen brechen kann. In der Schauspieltruppe etwa kommt auch ein mit einem Saiteninstrument Bewaffneter vor, optisch ein Mix aus Michael Jackson und Jimi Hendrix, der auch ansonsten viele Rockstar-Klischees erfüllt (Auftritt mit Nebel, schnelles Einfinden an der Bar etc.). Schaut man sich das Instrument aber genau an, so hat es nur vier Saiten – eine äußerst gekonnte ironische Brechung des Gitarrenstars, der doch „nur“ Baß spielt (und damit bandintern die Rolle des Bratschers im Orchester einnimmt). Auch das grundsätzliche Kleidungsprinzip (die Menschen eher bürgerlich, die übernatürlichen Wesen eher schräg) verrät, dass sich hier jemand (also entweder Gruber oder Ausstatter Roy Spahn) Gedanken gemacht hat – und die große Prügelei im zweiten Akt geht als äußerst gekonnt in Szene gesetzt durch.
Das Orchester nimmt den Raum der abgebauten sechs vorderen Sitzreihen ein, der Rezensent sitzt in Reihe 8 auf der Seite der Tiefstreicher. Bis sich sein Ohr an die Ausbalancierung des Orchesterklangs gewöhnt hat, dauert es eine Weile – es gibt keine Ouvertüre, sondern die ersten Streichertupfer leiten gleich über in den eröffnenden Elfenchor. Die gedankliche Orchesterbalance ist irgendwann hergestellt, so dass man auch die vielen kleinen Einfälle Brittens angemessen würdigen kann, wenn da etwa aus der linken hinteren Ecke Cembalo- oder Celestaklänge angeschwebt kommen, und Alexander Stessin, der von den sechs Aufführungen die am zweiten und die am vom Rezensenten erlebten letzten Abend leitet, dirigiert seine Studenten mit viel Ruhe und souverän durch die Klangwelt – die Unfalldichte im Orchester fällt recht gering aus, das Händchen für gute Klanggestaltung überzeugt über weite Strecken, und der Dirigent zeigt, dass er in den drei Jahren seit „Der Bettelstudent“ enorme Schritte nach vorn gemacht hat. Praktisch kaum bewertbar sind hingegen die Sänger, die, wenn sie in den beiden hinteren Ebenen der Bühne agieren, gegen das Orchester nur in wenigen Fällen eine Chance haben und sich auch in der vorderen Bühnenebene kaum akustisch durchsetzen können. Erstaunlicherweise bildet Altistin Kristýna Rohácek als Hippolyta die markante Ausnahme – ihr Stimmfach ist ja eigentlich prädestiniert, vom Orchester zugedeckt zu werden, aber sie kann sich in ihren wenigen Auftritten im dritten Akt prima Gehör verschaffen. Inhaltlich nützt ihr das freilich nichts: Sie ist die Braut von Theseus, aber Gruber läßt sie die unglückliche Braut geben, die vom griechischen Herrscher mit Gewalt zur Ehe gezwungen wird, wodurch auch das anschließende, lustig gemeinte Schauspiel primär an Sinn verliert und die Versöhnung von Oberon und Titania eigentlich auch scheitern müßte. Letztere wird dann entsprechend auch nur angedeutet, und nach viel Klamauk im Schauspiel sind am Ende dann entweder fast alle eingeschlafen oder aber Schlafes Bruder zum Opfer gefallen, worin sich Gruber als gelehrige Nachfolgerin von Matthias Oldag positioniert. Dass nicht jede ironische Brechung dem Gesamtbild dienlich ist, hatte bereits zuvor das Finale von Akt 2 gezeigt: Britten, der in diesem Werk musikalisch ansonsten haufenweise Witz und Ironie eingebaut hat, schreibt hier einen komplett ironiefreien hochromantischen warmen Instrumentalausklang, den Stessins Instrumentalisten auch genauso aus ihren Instrumenten zaubern – aber irgendjemand hatte den unglücklichen Einfall, Nathalie Reißmann als Puck dazu auf der Bühne schnarchen zu lassen.
Das Gros des Publikums stört sich an den Ungereimtheiten freilich nicht, sondern bricht vor allem im dritten Akt während des Schauspiels (dessen ausgedehntes Vorhandensein ist ein schon von Britten/Pears erzeugtes Grundproblem des Stücks, weil die Konflikte zu Beginn des letzten Akts eigentlich alle schon gelöst sind, aber die Spielzeit irgendwie noch gefüllt werden muß – hier rächt sich die Komprimierung ein wenig) regelmäßig in Gelächter aus. Der Rezensent ist freilich nicht der einzige, der so manches etwas kritischer sieht, fällt doch hinter ihm schon in der Pause nach dem zweiten Akt der Satz: „Da kann man viel lernen, wie man’s nicht macht.“ Die beleuchtungsbedingt bisweilen nicht ganz optimale Lesbarkeit der deutschen Übertitel (gesungen wird natürlich in Originalsprache) erschwert das Nachvollziehen einiger Gags, obwohl die Licht- und Nebelregie insgesamt recht stimmig ausfällt und sich im Schauspiel des letzten Aktes auch der Scheinwerferbediener auf der Bühne in dessen Überdrehtheit (wie auch immer man die finden mag) stilgerecht einpaßt. Letztlich zeigt sich der Großteil der Anwesenden begeistert und spendet am Ende reichlich Applaus, ohne sich über die Problemfälle tiefere Gedanken zu machen – auch das kein neues Phänomen. Hinten links in der Ecke der Bühne steht übrigens über alle drei Akte hinweg ein Eisbär, auf dem facehuggerartig ein Seestern sitzt. Inszenierungsseitige Anspielungen auf „Alien“ oder auf einen gewissen Grauzone-Klassiker hat zumindest der Rezensent aber nicht ausmachen können.


Roland Ludwig



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