Benevoli, O. (Niquet, H.)

Missa Si Deus pro nobis - Magnificat u. a.


Info
Musikrichtung: Barock Sakralmusik

VÖ: 08.06.2018

(Alpha / SACD hybrid / DDD / 2018 / Best. Nr. Alpha 400)

Gesamtspielzeit: 62:00



OZEANISCHES FLUTEN

Der alte Siggi Freud würde sich beim Anhörern dieser herrlichen Musik wohl bestätigt sehen: Religion ist pure Regression, die den Menschen auf dem Niveau eines Kleinkindes festhält.
Denn wie die Klänge in Orazio Benevolis (1605-1672) monumentaler 16stimmiger Missa Si Deus pro nobis ozeanisch strömen und fließen, in Klangwogen den Raum durchfluten und den Hörer - sofern er über das nötige Surround-Equipment verfügt - allseitig umhüllen, so dass er sich gleichsam wie in einem sakralmusikalischen Uterus in allerschönstem Wohlklang gebadet und genährt fühlen darf, das ist ebenso erhebend wie tröstlich.

Freilich verfehlt eine solche oberflächliche Religionskritik am Ende ihren Gegenstand. Zwar hat Benevoli mit seinem "Kolossalbarock"-Stil im 17. Jahrhundert in Rom sicherlich auch im Sinne der sogenannten "Gegenreformation" gewirkt und zweifelde Gläubigen in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückführen wollen. Musste eine Konfession, die solch grandiose Kunst hervorbrachte, nicht auch im Vollbesitz der allerheiligsten Wahrheiten sein?
Aber wenn man unbefangen der Musik lauscht, dann reichen solche reinen Propaganda-Zwecke eben nicht hin, um den schöpferischen Impuls für dieses Raumklangwunder hinreichend zu erklären: Acht Chöre mit je vier Sänger*innen, die durch unterschiedliche Instrumentalensembles ergänzt werden, musizieren an unterschiedlichen Standorten im Kirchenschiff. Benevolis immer neue Kombination wie Kumulation der sich überlagernden Ensembles führt häufig zu Klangzuständen, in denen nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit aufgehoben und transzendiert scheinen: Wenn z. B. im 2. Kyrie die vielen Stimmen spiralförmig zu kreisen beginnen, dann entstehen Klangtexturen bzw. "Patterns", in denen so etwas wie die Ahnung der Ewigkeit aufscheint. Vergleichbar die gewaltige Aaa-meen-Antiphonie am Ende des Credos, in dem der Hörer über eine quasi unendliche harmonisch-rhythmische Pulsation den Eindruck verzückt jubilierender himmlischer Heerscharen gewinnen kann - und er selbst befindet sich mitten im heiligen Getümmel, im Angesicht der göttlichen Majestät.

Wogen, Flächen, Wolken, Volumen, Pulsationen ... Das alles sind nun nicht nur Klangkulissen, die durch die schiere Überwältigung wirken sollen. Hier offenbart sich ein nachgerade mystisches Empfinden. Gut vorstellen kann man sich beim Credo-Amen die Hl. Teresa von Avila, wie Bernini sie im Augenblick mystischer Verzückung in Marmor gebannt hat; möglicherweise hat sich die unio mystica für sie analog genau so angefühlt. Der katholische Barock hat die Mystik gewissermaßen demokratisiert und im Sinne von Erlebnisräumen und "Events" allen Gläubigen zugänglich gemacht. So bietet der Komponist mit seiner Messe das akustische Gegenstück zu all den geöffneten Barockhimmeln mit ihren Engel und Heiligen, die das Gewölbe so vieler großer Kirchen des 17. Jahrhunderts bevölkern: Jedes Detail wird kunstvoll ausgeführt und ist für sich verständlich, folgt einem genauen Plan. Das Ganze übersteigt in seiner Überfülle dann aber das Fassungsvermögen.
Doch auch der Hörer von heute mag bei den genannten Beispielen einen Zugang finden, wenn er z. B. an die Musik von Philipp Glass denkt. So (post)modern kann Barockmusik sein!

Neben den mantraartigen Wiederholungs-Schleifen bestimmter Phrasen bemührt sich Benevoli aber auch, die einzelnen Worte verständlich zu halten, insbesondere bei wortlastigen Vorlagen wie dem Gloria oder Credo - es geht eben nicht nur um Klangbäder, sodern auch um Botschaften. Auch in dieser Hinsicht setzt er die Vorgaben der kirchlichen Auftraggeber angemessen um. So illuminiert und koloriert Benevoli die heiligen Texte oft Wort für Wort, lässt sie im einfachen akkordischen Satz in harmonischen Farben leuchten, umspielt sie polyphon, setzt solistische Stimmen gegen größere Ensembles - ein Pendant zu jenen optischen Licht- und Farbspielen, mit denen die bildenden Künstler die Kirchenraum-Architektur überzogen.

Es ist das Verdienst von Hervé Niquet und seines Concert Spirituel, dass solche Prachstücke der Kirchenmusik heute wieder auf angemessene Weise zur Gehör gebracht und auf CD gebannt werden. In diesem Fall betonen der Dirigent und die Ausführenden den "malerischen" Moment der Musik. Extreme werden nicht forciert und dynamische Höhepunkte entwickeln sich wie von selbst aus der kompositorischen Struktur. Auch die vokalen Akzente werden eher mit weichem Pinselstrich gesetzt und die einzelnen Abschnitte ohne größere Brüche ineinander überführt, so dass man als Zuhörer "im Klangkörper" bleibt und mit ihm den "Aggregatzustand" ändert. Streicher und Posaunen grundieren das Ganze samtig, während die Zinken auf der "Oberfläche" für goldene Reflexe sorgen. Archaischere Instrumente wie schnarrende Regale rauen das Ganze angemessen auf, so dass der Wohlklang nicht zum "Einheitssound" gerinnt. Eine sinnige Rahmung der großbesetzten Messteile durch kleiner disponierte Stücke aus der Feder anderer Komponisten lässt den liturgischen Kontext erahnen, in dem Benevolis Messe ursprünglich erklang.



Georg Henkel



Besetzung

Le Concert Spirituel

Hervé Niquet: Leitung



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