Musik an sich


Reviews
Bruckner, A. (Venzago)

Sinfonien Nr. 4 & 7


Info
Musikrichtung: Romantik Orchester

VÖ: 23.05.2011

(CPO / JPC / 2 CD / DDD / 2010 / Best. Nr. 777615-2)

Gesamtspielzeit: 125:36



INFORMIERTE SUBJEKTIVITÄT

Ein Bruckner-Zyklus, der mit überkommenen Aufführungstraditionen bricht und den neun Sinfonien ein neues Klangbild verpasst – das würde man doch am ehesten bei der historischen Aufführungspraxis erwarten. Hier aber legt ein normales Sinfonieorchester – das Baseler – unter einem ebenfalls nicht als Originalklangverfechter bekannten Dirigenten - Mario Venzago - den ersten Teil einer geplanten Gesamteinspielung vor. Und der enthält mit den Sinfonien Nr. 4 und Nr. 7 auch noch gleich zwei der beliebtesten Werke des Meisters, an deren Bewältigung der Brucknerianer gerne Maß nimmt.
Diese beiden Kompositionen aber klingen gleich von den ersten Takten an wirklich einmal anders. So anders, dass dagegen selbst ein Historist wie Philipp Herreweghe und das auf Originalinstrumenten spielende Orchestre des Champs-Élysées doch eher im Bruckner-Mainstream mitzuschwimmen scheinen. Herreweghe ist vor allem ein bedachtsamer und konzentrierter Sachwalter der Partituren und arbeitet – wie die meisten anderen Bruckner-Dirigenten – die großen architektonischen Blöcke sinnig und mit insgesamt flüssigen Tempi heraus und überlässt es ansonsten seinem Orchester, die Musik durch die transparente Farbigkeit neu zu beleuchten.

Venzago riskiert jedoch eine informierte Subjektivität, zu der er sich im vorbildlichen Beiheft ausdrücklich und mit überzeugenden Argumenten bekennt. Zu dieser Subjektivität gehören für ihn Sinnlichkeit, Sakralität, Auskosten von Momenten und Stimmungen. Einen Freibrief für Exzesse meint dies freilich nicht.
Der Dirigent nimmt Bruckners sparsame Auszeichnung der Partituren mit Tempo-, Agogik- und Dynamikangaben nicht als ehernes Gesetz, sondern als Vorlage für eine ebenso reflektierte wie intuitiv-musikalische Nachschöpfung. Wie bei Herreweghe steht diese Ansatz für eine Absage an überdimensioniertes Orchesterdonnern. Derlei gilt Venzago gar als gotteslästerlich! Das heißt nicht, dass die Musik bei ihm saftlos klänge. Freilich: Den irisierenden Streicherglanz der Wiener oder die schwarzerdigen Eruptionen der Berliner gibt es nicht zu hören.
Aber wie aufgelichtet hier das Stimmen- und Klangfarbenspiel hier erscheint! Das Baseler Sinfonieorchester lässt Bruckners Monumente lyrisch und blühend klingen. Venzago favorisiert das Klangbild Schuberts. So gelingt es ihm – auf konventionellen Instrumenten wohlgemerkt – eine erstaunlich Farbpalette in Bruckners Orchestermusik zu entdecken und viele Stimmbewegungen hörbar zu machen, die sonst im allgemeinen Rauschen untergehen. Wie archaisch und ‚primitiv‘ orchestriert ist Bruckners Sinfonik wirklich? Offenbar genauso archaisch und einfach, wie die Interpreten ihn empfinden und umsetzten. Das Archaische hat natürlich auch seine Reize. Wer würde schon auch Günter Wands wuchtige Kantigkeit und Klarheit verzichten wollen?
Bei Venzago werden dafür häufig Nebenstimmen sinnvoll betont und Vieles – wie der pointilistische Tanz der Holzbläser im Scherzo der 4. Sinfonie – hat man so noch nicht gehört. Die Bläserchoräle sollen z. B. nach Vorstellung Venzagos wie Männerchöre klingen – ein faszinierender Effekt, der auf historischen Instrumenten sicherlich auch sehr reizvoll wirken würde. Auch die ambivalenten Züge der Musik werden im Zuge dieser Demonumentalisierung vernehmbarer.
Manieriert klingt das nicht, sondern schlicht reich (was auch für das im Ganzen flachere dynamische Profil entschädigt). Weil der Dirigent sich nicht scheut, die vielen Episoden charaktervoll sich entfalten zu lassen, auch bei der Agogik ein taktstrichfreies Musizieren bevorzugt, gerät ihm die Musik wohltuend anders. Statt sich wie eine Staumauer dem Fluss der Zeit entgegenzustemmen, gibt sich die Musik diesem Fluss hin. So kommt überhaupt keine Langatmigkeit auf, der Hörer ‚fließt‘ einfach mit. Die Architektur verunklart das nicht, sondern verlebendigt sie vielmehr. So nehmen die von Hanslick bekritelten Riesenschlangen der 7. Sinfonie durch ihre organischen Bewegungen und die erstaunliche Vielgestaltigkeit für sich ein. Da scheint Bruckner Brahms näher als sonst üblich.

Ohne aus den Sinfonien Bruckners eine spätromantische Programmmusik zu machen, werden sie doch im Ganzen beredter, erzählender. Man kann verstehen, was Mahler an Bruckner fasziniert hat. Beim Scherzo der 4. Sinfonie gerät das pastoral getönte Trio wirklich zu einer Musette. Und im Finale der gleichen Sinfonie mutiert das 2. Thema durch eine plausible Veränderung des Grundtempos zu einer Polka. Da findet sich also schon deutlich jenes Stilgemisch, das Mahler dann in seinen eigenen Sinfonien auf die Spitze treiben sollte.
Venzago verweigert sich auch einem Kult pastoser Langsamkeit, der Feierlichkeit stimulieren soll. Er bekennt sich stattdessen zu einer ekstatischen Sinnlichkeit, die, ohne sich jemals hastig zu gebärden, die Musik von innen heraus zum Pulsieren und Strahlen bringt. Mendelssohn lässt grüßen.
Leider steht dem das etwas graue, in den tiefen Registern leicht mulmige Klangbild der Aufnahme entgegen. Vor allem die modernen Pauken neigen schnell zu einem undifferenzierten verwaschenen Klang. Hier wünschte man sich mehr Konturenschärfe. Und mitunter merkt man, dass die Instrumente gerne mehr geben würden, aber sich zugunsten des Gesamtklangs zurückhalten müssen. Auch hier würde man zum Vergleich gerne mal ein historisch bestücktes Ensemble hören.

Insgesamt eine Interpretation, die Lust auf Bruckners Musik und auf eine Fortsetzung macht. Auf dem übersättigten Klassikmarkt bedarf es noch viel mehr solch origineller Würfe!



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 Sinfonie Nr. 4 61:15
CD 2 Sinfonie Nr. 7 64:21
Besetzung

Sinfonieorchester Basel

Mario Venzago: Leitung


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>