Immer wieder habe ich mir beim Erdichten dieser Review den Kopf zerbrochen, ob es nicht professioneller wäre, meine erste Assoziation beim Blick auf das Cover für mich zu behalten. Ich tue es nicht.
Ich musste sofort an die Tele-Tubbies denken. Diese kleinen merkwürdigen Wesen, die sofort vor Begeisterung quieken, wenn irgend etwas passiert - egal, was man ihnen vorsetzt. Und schlimmer noch: Mir erschien dieses Cover als absolut angemessen. Denn Marillion, die Band, der es anno 1982 gelang mit Hilfe von "He knows you know" mein Ohr am Radio festzuknoten, hatte mir nach zwei genialen und einem immer noch hochklassigem Album einige der herbsten Enttäuschungen in meinem ausgefüllten Leben als Musik-Konsument bereitet. Und dennoch gab und gibt es Fans, die bei jedem neuen Werk der ent-fishten Band vor Begeisterung Purzelbäume schlagen. (Machen die Tubbies auch, oder?) Spätestens nach den "Holidays in Eden" habe ich diese Band in Gedanken vollständig zu Grabe getragen.
Kein Wunder, dass ich "Anorak" mit der Gewissheit in den Player schob, dass mich diese CD bestimmt nicht enttäuschen wird. Und dann passierte sogar das Gegenteil. Nein, die geniale Magie der Frühwerke ersteht hier nicht neu. Die Fish-Marillion sind und bleiben Vergangenheit. (Es bedarf wohl kaum einer Erwähnung, dass es kein Stück aus der Fish-Aera auf dieses Album geschafft hat. Selbst die frühen Jahre der Hogarth-Phase werden nur mit den beiden Schlußtracks berücksichtigt.) Aber mit "Anorak" liefern die britischen Progger eines der intensivsten Live-Alben der letzten Jahre ab. Würde ich für die Frühwerke natürlich immer die alten Genesis als Vergleich heran ziehen, habe ich den Eindruck, das Marillion mittlerweile eher im Fahrwasser von Pink Floyd fahren. Das allerdings eher recht eigenständig.
Sehen wir uns einige Tracks genauer an. Das von Steve Rotherys Gitarre getragen "Quartz" ist recht chillig, teilweise mit jazzigen Versatzstücken, und steht nicht untypisch für eine Reihe von Titeln, die eher Soundscapes als marktübliche Melodien darstellen. Ganz anders "Map of the World", das mit seinem poppigen Refrain einen Tribut an die 60er oder frühen 70er zollt. "Between you and me" wird dann fast bedrohlich noisig, bevor dann mit "The great Escape" klar in den Pink Floyd-Highway einbiegt. "If my Heart were a Ball it would roll uphill" klingt dann wie eine Collaboration von PF mit U2. Etwa bei Laufzeit 5 Minuten scheint dann Chris Isaac als Sänger in Erscheinung zu treten.
Marillion haben mit diesem Live-Album nicht nur die tiefen Wunden in der Seele eines Ex-Fans gelindert. Sie haben außerdem die Lücken im Marilion-Backkatalog, der in meiner Sammlung gähnt, auf die Einkaufsliste gehoben. Und sie haben sich die klare Chance erarbeitet, mich mit der nächsten Scheibe mal wieder zu enttäuschen.
Proggies testen das Album mindestens an. Nur wer beim Namen Marillion an nichts anderes denken kann, als an "Script for..." oder "Fugazi" sollte einen weiten Bogen um dieses Album machen.
15 von 20 Punkte
Norbert von Fransecky
www.marillion.com/web