Der Respekt, den mir augenblicklich der Mut abrang, als heterosexueller Mann einen Titel wie "Ich bin schwul" aufzunehmen und diesen derart charmant und unter Vermeidung eines für solcherlei thematische Gefilde als unabwendbar vorauszusetzenden Peinlichkeitsempfindens vorzutragen, wurde durch Herrn Witts dann doch eher komisches und plump verallgemeinerndes Outing als "Kopfschwuler" umgehend annulliert, so dass nun genug Worte über diesen Song verloren wurden und ohne jedwede Voreingenommenheit das neue Album begutachtet werden kann.
So gar nicht gruftig ist es ausgefallen und hat mit den Vorgängern, zu denen die Querverbindung folgerichtig durch den Wegfall des Arbeitstitelzusatzes "Bayreuth 3" gekappt wurde, bis auf den
inoffiziellen "Über den Ozean"-Nachfolger "Schwingenschlag" weniger gemein als mit Witts großen Erfolgen der ein wenig ferneren Vergangenheit. "Supergestört und superversaut" vergleicht der Schöpfer selbst mit "Herbergsvater" und hat dabei nicht Unrecht. Pop im allerbesten Sinne steht auf der musikalischen Speisekarte unbegrenzter Möglichkeiten, die jeder erdenklichen Hörgewohnheit zuwider läuft und trotz nicht zu bestreitender Eingängigkeit so manch unbequeme Ecken und Kanten unter scheinbar glatter Oberfläche beheimatet.
Nicht minder bizarres, zumeist delikates Korrelat findet sich in den Texten, die mit einem Schritt zurück ebenfalls mindestens zwei nach vorn machen, und sei es nur in Punkto Wagemut: Man denkt globaler im Hause Witt, denn in der diesmal nicht allein vom Meister selbst, sondern auch seiner Freundin und Hitlieferant Steve van Velvet verfassten Lyrik ist neben der Introspektive und kontemplativen Naturbezogenheit heuer wieder Platz für das Weltgeschehen, die Gesellschaft und kritische Reflexion. Fettnäpfchen wird nicht durchgängig ausgewichen, was beispielsweise „Steif“ beweist, ich in diesem Fall dem Interpreten aber höchstens als leichtes Minus ankreiden möchte.
Schräg von vorne bis hinten. Was fast schon wieder eine Anspielung sein könnte.
15 von 20 Punkte
Thorbjörn Spieß