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Musik an sich
 
Arias for Farinelli
Bereits erschienen (Harmonia Mundi)
Barock Vokal / Opernarien
 

Vivica Genaux - Mezzosopran / Akademie für Alte Musik Berlin / René Jacobs

1994 hat Gérard Corbiau dem Sopran-Kastraten Carlo Broschi (1705-1782), genannt Farinelli, ein filmisches Denkmal gesetzt. Er porträtierte den barocken Starsänger als hypersensiblen Künstler, der sich zu Höherem (sprich: zur Musik G. F. Händels) berufen fühlte, anstatt die immer gleichen seichten Arien seines Bruders Riccardo vor einem sensationslüsternen Publikum zu singen, dessen Aufmerksamkeit nur bis zum nächsten Triller reichte. Dekoriert mit einem suggestiven Soundtrack, wurde dieses spekulative, modern-psychologisierende Kostümfest zu einem großen Kinoerfolg. Die schillernde Persönlichkeit, abenteuerliche Biographie und nicht zuletzt sexuelle Ambivalenz Farinellis haben seitdem das Interesse an seiner Person wachgehalten.

Dabei wird der eigentliche Grund für seinen ungeheuren Erfolg zu Lebzeiten immer ein Geheimnis bleiben: seine Stimme. Mit dem Umfang von über drei Oktaven, einem schier unendlichen Atem, der angenehmen Farbe und vollkommenen Technik schien dem Sänger nichts unsingbar zu sein: galoppierende Läufe mit über hundert Noten auf einer Silbe, unaufhörliche Trillerketten, extreme Intervallsprünge, ein langsames Messa di Voce vom zartesten Piano bis zum Fortissimo ... Farinelli mußte seinen Zeitgenossen wie die Inkarnation des barocken Belcanto erscheinen.

Um den Ausnahmesänger stimmlich auferstehen zu lassen, hat man für Corbiaus Film die Stimme eines Countertenors mit der einer Sopranistin digital verschmolzen. Was immer man von einem solchen synthetischen Zwitter halten mag: Im Film hat es funktioniert.

Dagegen versucht eine Neuproduktion von Farinelli-Arien mit der jungen Mezzosopranistin Vivica Genaux erst gar nicht, ein fiktives Kastratentimbre zu reproduzieren, sondern entscheidet sich für eine schon im Barock übliche Ersatzlösung. Die Sängerin singt die hochvirtuosen Stücke aus Opern von Nicola Antonio Porpora (Farinellis Gesangslehrer), Johann Adolf Hasse (damals DER barocke Opernkomponist), Riccardo Broschi und Geminiano Giacomelli mit einer beeindruckenden, souveränen Technik, die selbst barocke Ohren zufriedengestellt haben dürfte. Eine "geläufige Gurgel" nannte man das damals. Aber ob Genaux auch die Begeisterungsstürme eines Farinelli ausgelöst hätte?

Technik ist nicht alles. Sie ist lediglich die Voraussetzung für eine überzeugende Interpretation. Vielleicht wird man der hochstilisierten Gesangskunst des Barock aber auch nicht gerecht, wenn man mehr als Technik, nämlich individuellen Ausdruck, erwartet. Das lyrische "Ich", das sein subjektives Seelenleben ausdrückt, betritt erst mit der Romantik die Bühne. Im frühen 18. Jahrhundert agierte dort noch der überindividuelle Idealtyp, kein "Charakter", sondern eine Maske. Die Erfüllung der Konvention und handwerkliche Solidität bestimmten über den Erfolg von Kunst. Angesichts einer Musik, die eben auch nicht mehr wollte, als diesen Erwartungen zu entsprechen, mag die Interpretation Genaux vielleicht akzeptabel sein. Ansonsten muß sie freilich unbefriedigend bleiben.

Über das Timbre kann man streiten: Genaux hat einen ausgeglichenen, gut sitzenden Mezzo, dessen Umfang von mehr als zwei Oktaven genügend Ressourcen für die ausgewählten Stücke bietet. Die tiefen Brustregister, eine Spezialität auch Farinellis, klingen angemessen volltönend. Die Höhe dagegen wirkt wie gedeckelt: ohne jene Brillianz, die den Spitzentönen erst Durchschlagskraft und ein erregendes Feuer verleiht. Furor nimmt man der Sängerin daher ebenso wenig ab wie sehnsuchtvolle Entrückung. Eine beseeltere Gestaltung hätte dieses Manko vielleicht kompensieren können. Genau hier liegt aber das eigentliche Problem der ganzen Aufnahme: Selbst mit überforderten Countertenören hat man solche Musik in puncto Expressivität und musikdramatischer Gestaltung schon überzeugender, lebendiger gehört.

Gerade weil die musikalische Substanz mitunter dünn ist, bedarf es einer um so engagierteren, einfühlsamen Gestaltung, um diese Musik für moderne Hörer zu vergegenwärtigen. Kaum einmal wird bei der vorliegenden Aufnahme aber deutlich, daß hier intensive, ja extreme Gefühlszustände in Musik sublimiert werden. Denn bei aller Stilisierung sind die barocken Verzierungskünste kein Selbstzweck, sondern Mittel, diese Gefühle darzustellen und zu vermitteln. Genaux gelingt diese Übertragung nicht überzeugend. Das Interpretationsprofil ist einfach zu flach, die Farbwerte sind zu monoton, die Emotionen zu pauschal. Bei ihr bleibt der Gesang eine höchst erfolgreiche Bewältigung von stimmtechnischen Anforderung. Aber er berührt nicht. Ihm fehlt jene Aura des Leidenschaftlichen oder Geheimnisvollen, die das Interesse an den Figuren, ihren Schicksalen und Empfindungen wecken könnte. Hier klingt (fast) alles gleich. So lauscht man den virtuosen Kaskaden ebenso wie den ruhigeren Passagen mit zunehmender Langeweile. Der Höhepunkt ist dann beim Schlußstück erreicht: Giacomellis "Quell'usignolo" - "Die Nachtigall" aus der Oper "Merope" wird zu einer vierzehnminütigen Tour-de-Force, eine Art Readers-Digest barocker Gesangstechnik. Leider können selbst hier die originalen Farinelli-Kadenzen nicht verhindern, daß der Funke einfach nicht überspringen will.

Angesichts der Kompetenz der übrigen Beteiligten und der vorzüglichen, ansprechenden Präsentation mit einem höchst informativen Booklet ist es um so bedauerlicher, daß das Plädoyer für eine untergegangene Gesangskultur nicht überzeugender ausgefallen ist.

Musik: 2 Punkte
Interpretation: 2 Punkte
Präsentation: 5 Punkte
Klang: 4 Punkte

13 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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