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Musik an sich |
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Christoph Willibald Gluck: Iphigénie en Tauride
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(Universal / Deutsche Grammophon)
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Klassik
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Glucks vorletztes Werk für die Bühne gilt heute gemeinhin als Höhepunkt seiner
Reformbemühungen um eine Erneuerung der Oper aus dem Geist des Dramas: eine einfache,
von allem Dekor bereinigte Handlung, ein natürlicher, dabei leidenschaftlicher Ausdruck und
glaubhafte Charaktere sollen die schematischen Libretti, die statische Personentypologie und
den „künstlichen“ Ziergesang der barocken Oper ersetzen. Kurz: Es geht um die Realisation
eines "aufgeklärten" Musiktheaters. Richard Wagner deutete Gluck als Vorläufer seiner eigenen
Reformpläne und sicherte dem Komponisten damit einen dauerhaften Platz im Repertoire. Daß
Wagner es andererseits für nötig hielt, die "Iphigénie" zu bearbeiten, zeigt jedoch, daß sich sein
Lob wohl mehr auf die Idee als auf die Ausführung bezog.
In der Tat ist nicht zu übersehen, daß Glucks Werk nach wie vor mehr als Gesinnungstat denn
als lebendiges Opernerlebnis geschätzt wird. Die einst so revolutionäre Reduktion auf das
Wesentliche scheint 200 Jahre später eben nicht gerade frei von Langeweile und hohlem
Pathos. Man behilft sich heute mit dem Etikett von der „edlen Einfalt und stillen Größe“, das als
bildungsbürgerliches Feigenblatt auf eine, mit Verlaub, doch eher mittelmäßige Musik geklebt
wird – und fertig ist der Klassiker fürs Regal, wo er gut steht, aber nicht gehört werden muß.
Es ist unter anderem der Verdienst einer engagierten historischen Aufführungspraxis, wenn sich
ein solches Gluck-Bild in der letzten Zeit zunehmend wandelt. Hört man die ersten Takte der
neuen Gesamteinspielung der „Iphigénie“ durch die Musiciens du Louvre unter der Leitung Marc
Minkowskis, so wird einem jeder Vorbehalt gegen diese Art von Musik im wahrsten Sinne des
Wortes aus den Ohren geblasen: Nach der trügerischen Idylle des Anfangs hebt der berühmte
Sturm an, ein furioser, brillant musizierter Auftakt für rund 100 Minuten packendes und
bewegendes Musiktheater. Minkowski und seinem Ensemble gelingt es hier ebenso wie in den
zarten, lyrischen Passagen, alle Facetten der Partitur zum Leuchten zu bringen. Der sonore,
intensive Klang der historischen Instrumente gibt den idealen Hintergrund für die
hervorragenden Sänger: Mireille Delunsch verleiht der Iphigénie mit ihrer herrlich dunkel
getönten Sopranstimme eine anrührende Tragik, der im Chor der Priesterinnen sein
ergreifendes Echo findet. Der Oreste von Simon Keenlyside besticht durch einen ebenso
geschmeidigen wie kraftvoll-männlichen Bariton: Verzweiflung und besessene Raserei gestaltet
er ebenso glaubhaft wie seine leidenschaftlichen Freundschaftsbekundungen. Als sein Freund
Pylades steht ihm der Tenor Yann Beuron nicht nach: Ihr Duett im 3. Akt ist ein Höhepunkt der
Aufnahme. Düster und mit Wucht kommt der Barbarenkönig Thoas von Laurent Naouri daher.
Nicht nur hier bricht durch die Fassade eines nur oberflächlich marmorkühlen Klassizismus
immer wieder die Ahnung einer archaischen mythischen Welt: erregend der Auftritt der Furien,
die Orest wegen Mordes an seiner Mutter verfolgen. Hier wie auch im Schlachtengetümmels
des letzen Aktes besticht der Chor durch perfektes Timing und kraftvolle Deklamation.
Marc Minkowski hat in einem Interview seine Besessenheit von Gluck bekannt. Angesichts
dieser vorzüglichen Live-Aufnahme möchte man ihm das gerne glauben.
Georg Henkel
18 von 20 Punkten
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