Ungewöhnliche nordische Synthese: Clyne, Mendelssohn und Sibelius beim Gewandhausorchester




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 24.03.2022

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Fredrik Schlyter

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Schon wieder britische „Nachtgedichte“ im Gewandhaus: Benjamin Brittens Nocturne op. 60 hatte gerade erst vor zwei Wochen auf den Pulten des Gewandhausorchesters gelegen, nun folgt „This Midnight Hour“ aus der Feder seiner Landsfrau Anna Clyne, die mittlerweile aber in die USA umgezogen ist. Die beiden Gedichte, die die Inspirationsquellen für das etwas über zehnminütige Orchesterstück liefern, das, 2015 in Frankreich uraufgeführt, nun das erste Mal im Gewandhaus erklingt, stammen allerdings aus der Alten Welt, von Jiménez und von Baudelaire, und es bleibt bei Inspirationen – eine Umsetzung in eine Handlung findet nicht statt, was gerade bei Jiménez auch schwierig wäre, denn dessen Kurzgedicht hat übersetzt folgenden Text: „Die Musik rennt als nackte Frau im Wahnsinn durch die Nacht.“ Aha. Sonst noch Fragen? Vielleicht, was man dazu für eine Musik schreiben soll. Das wilde Tiefstreichergesäge zu Beginn entpuppt sich jedenfalls als eines der strukturdeterminierenden Elemente, die markanten absteigenden Streicherlinien als weiteres, und generell zeichnet die Komponistin die Nacht eher bedrohlich: Da gibt es Gedonner, da mischen sich fiebrige Einwürfe aus verschiedenen Instrumentengruppen ein, da erzeugt die Piccoloflöte Töne, die an einen Tinnitus erinnern, da läßt Dirigent Sakari Oramo das Orchester in diversen Verharrungen ultratiefe Schwärze erzeugen, und da schießt im Mittelteil das Schlagwerk von hinten. Letzteres bildet allerdings das Signal für einen totalen Umschwung: Clyne setzt plötzlich auf große spätromantische Klänge, wenngleich in traumverlorener Umgebung, und dann entwickeln die Holzbläser auf einmal ganz liebliche Landschaften, die, als die Trompete hinzutritt, einen prima Western-Soundtrack ergäben, wenn der Held nach überstandener Gefahr in den Sonnenuntergang reitet. Nur wird er ganz zum Schluß dann halt doch erschossen ... Der Applaus fällt eher verwirrt aus.

Mit Johan Dalene (Foto) betritt danach einer der derzeitigen violinistischen Shooting Stars die Bühne, und er hat einen Hit im Gepäck: Felix Mendelssohn Bartholdys Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64 MWV O 14, anno 1845 im damaligen ersten Gewandhausbau uraufgeführt und seither regelmäßig vom Gewandhausorchester und unzähligen anderen Orchestern von Weltgeltung aufgeführt. Um ihm noch originelle Seiten abzugewinnen, ohne in Irrwitz zu verfallen, muß man sich also ziemlich anstrengen – und am Ende staunt der Hörer Bauklötze, dass Dalene ebendies schafft. Der junge Violinist spielt eine der spätesten Stradivaris, und deren sehr dunkler Ton paßt bestens zu seiner Strategie, dem Werk einen nordischen Tonfall zu verleihen, was durchaus nicht an den Haaren herbeigezogen wirkt, stand doch 1845 der Däne Niels Wilhelm Gade bei der Uraufführung am Dirigentenpult, der erfolgreich versuchte, der mitteleuropäischen Romantik einen nordeuropäischen Zug zu verleihen. Dalene ist Schwede, zwar in Stockholm lebend, aber auf dem Land aufgewachsen und so mit entsprechenden Traditionen vertraut, was in ähnlichem Kontext auch auf den finnischen Dirigenten Sakari Oramo zutrifft. Diese beiden verbünden sich nun zu einer eigentümlichen Synthese.
Um diese Strategie zu erkennen, genügt schon das Hören des berühmten Hauptthemas im ersten Satz Allegro molto appassionato: Dalene wählt einen fast rauhen Ton, spielt nordisch-distanziert, zerklüftet, dabei aber enorm bewegungsinduziert, so dass er vor dem Übergang ins Orchestertutti fast eine Kniebeuge hinlegt. Warme Emotionen bleiben durchaus nicht komplett abwesend, wenn etwa unter den Flöten ein flauschiger Klangteppich ausgerollt wird, aber den rauht Dalene bald wieder auf, ohne dass das freilich irgendwie bemüht wirkt, und auch seine sportliche Attitüde kann man ihm nicht wirklich übelnehmen. Im Gegensatz zu ihm dirigiert Oramo ruhig und fast ohne Beinbewegungen, legt viel Transparenz in den Orchesterklang, evoziert nötigenfalls auch Energie und scheitert bisweilen lediglich daran, bei den Verzögerungen Einigkeit im Orchester herzustellen. Gespannt wartet man auf die Kadenz – und auch hier entschweben die hohen Töne nicht, sondern entfliehen förmlich.
Im Andante lassen Dirigent und Solist dann Welten aufeinanderprallen – wohl mit Absicht: Oramo entwickelt einen ausgeprägten Formwillen (er bewegt sogar mal kurz seine Beine, was für einen typischen Finnen schon als intensiver Gefühlsausbruch durchgeht), Dalene aber bleibt im Ton kühl. Das ergibt ein interessantes Konglomerat, wobei der Dirigent ein zumindest unterschwellig durchaus zügiges Tempo wählt und Dalene tatsächlich mal kurz in Lieblichkeit verfällt, damit klarmachend, dass er das durchaus könnte, wenn es darauf ankäme.
Im finalen Allegro molto vivace kommt es anfangs darauf an, und folglich hören wir in den suchend-tastenden Passagen auch wieder den lieblichen Dalene. Das bleibt freilich nicht so: Oramo gibt ein enormes Tempo vor, das den Solisten zu einer Art Leistungssport zwingt, ihn aber gestalterisch vor keinerlei Probleme stellt, denn da ist er wieder, dieser kantig-nordische Ton, der auch aus der Raserei noch markant hervorsticht. Die Jugend von heute hat allerdings wirklich keine Zeit mehr: Nach dem Schlußton und einem Diener geht Dalene im frenetischen Applaus sofort ab und hält auch die weiteren Vorhänge kurz. Aber Zeit für eine Zugabe hat er eingeplant und spielt Satz 3, Gavotte & Rondeau, aus der Partita E-Dur BWV 1006. Bedarf es einer gesonderten Erwähnung, dass das bei ihm klingt, als wäre Bach Skandinavier gewesen?

In der zweiten Programmhälfte gibt es dann ein tatsächlich authentisch skandinavisches Werk, sogar als Gewandhauspremiere: „Der Schwan von Tuonela“ aus der Feder von Jean Sibelius ist zwar seit 1955 schon mehrfach hier gespielt worden, aber dabei handelt es sich „nur“ um den auch ein Eigenleben führenden zweiten Satz aus der mit dem Untertitel „Vier Legenden für Orchester“ versehenen Lemminkäinen-Suite op. 22, und die gab es in ihrer Gesamtheit tatsächlich bisher noch nie im Gewandhaus zu hören. Sibelius hat einen klassischen Stoff aus seiner finnischen Heimat in Töne gegossen – Lemminkäinen ist einer der zentralen Helden des von Elias Lönnrot kompilierten Kalevala-Epos, ein jugendlicher Draufgänger, der immer wieder aneckt, aber letztlich doch damit durchkommt, wenngleich partiell nur aufgrund massiver Einflußnahme von außen. Dass ein Mann wie Sakari Oramo mit diesem Stoff umzugehen verstehen dürfte, war zu erhoffen und bewahrheitet sich letztlich auch.
Dabei hat Sibelius durchaus eigentümliche Szenen aus dem Leben des Helden herausgesucht. Das Allegro moderato an der Openerposition heißt übersetzt nämlich „Lemminkäinen und die Mädchen auf der Insel“ – der Protagonist schläft sich durch alle Betten der Inselbewohnerinnen bis auf eine, die ihn wegen dieser Verschmähung prompt verflucht, und letztlich muß der Held die Insel auf der Flucht vor den gehörnten Männern schleunigst verlassen. Was ein Südländer in feurige Musik gegossen hätte, hält Sibelius hingegen eher spröde und Oramo natürlich erst recht. Das Horn mutet zu Beginn eher verstimmt an, und die schrittweise Entwicklung, also die Suche des Protagonisten nach seinen „Opfern“, wird immer wieder durch eine zweite Ebene ergänzt, also z.B. eine latente Bedrohung aus der Großen Trommel. Freilich gönnt der Komponist dem Helden auch bisweilen unironische Lebensfreude und einige offensichtlich tatsächlich liebliche weibliche Wesen unterschiedlichen Temperaments, und aus der Trompete sprühen hier und da klangliche Funken, was aber an der grundsätzlichen spröden Tonsprache nichts ändert, zumal da im Hintergrund auch die Bässe unheildrohend grollen. Die Dramatikentwicklung gestaltet Oramo allerdings auch sehr dezent, und selbst wenn er die Klänge mal zu einer großen wagnerkompatiblen Passage schichten darf, tut er das ganz dezent (und wieder ohne jegliche Bewegung seiner unteren Körperhälfte). Beim Austrudeln des Satzes sind sich nicht immer alle ganz einig, aber irgendwann schafft es Lemminkäinen tatsächlich, von der Insel zu entkommen.
„Der Schwan von Tuonela“ zieht im zweiten Satz seine Kreise über dem See der Toten, und Lemminkäinen will ihn erlegen, kommt dabei aber selbst um. Der Vogel schwimmt im Andante molto sostenuto umher, und Oramo findet genau die richtige Balance zwischen majestätischem und zurückhaltendem Ausdruck in den Streicherflächen, bevor das Englischhorn maßgeblich ins Geschehen eingreift. Sein erster Ansatz wird noch von der unterschwellig grollenden großen Trommel abgewürgt, aber die wenn auch karge Lieblichkeit siegt, und die Spielerin darf sich zu farblich kühlen, aber trotzdem grandiosen Klanglandschaften aufschwingen, die man automatisch mit dem hohen Norden in Verbindung bringt. Die im Geschehen begründete angedüsterte Dramatik lockt Oramo mit großer Meisterschaft aus dem Orchester, und wenn das Solocello mit einem herrlichen Mix aus Emotion und Sprödigkeit am Satzschluß ins Nichts führt, dann weiß der Hörer, dass hier wieder mal alle alles richtig gemacht haben.
Das mit dem Nichts stimmt von der Story her nur je nach Interpretationsansatz – im dritten Satz landet der zerstückelte Lemminkäinen nämlich selbst in Tuonela, also im Totenreich, ehe seine Mutter seine Einzelteile herausfischt und im tempo largamente wieder zusammenbaut (sollten die geistigen Schöpfer von Freddy Krüger hier eine Inspirationsquelle gefunden haben?). Oramo steht in diesem Satz zunächst vor der nicht leichten Aufgabe, die vielschichtige Totenklage der Mutter auf die Bühne zu bringen, die aus unterschwelliger Raserei, die von anderen Temposchichten überlagert wird, besteht – aber er meistert das (unter abermaligem Gedonner aus der Großen Trommel) ebenso gekonnt wie die mehrstufige Entwicklung hin zum großen Revitalisierungstriumph, der auch einige plangemäße und einige nicht plangemäße Holperer enthält, ebenso wie die ersten Schritte nach der Revitalisierung, wo die Unruhe zur Abwechslung auch mal aus der Kleinen Trommel kommt. Dass sich Solocello und Große Trommel da gelegentlich uneins sind – geschenkt.
„Lemminkäinens Heimkehr“ wird im finalen Allegro con fuoco (poco a poco più energico) gefeiert, das auch den Soundtrack zu einem Abenteuerfilm hätte hergeben können. Für Sibelius-Verhältnisse entspinnt sich ein geradezu munteres Hin und Her, die Entwicklung verläuft durchaus nicht eindimensional, schließt einige Verharrungen ebenso ein wie mancherlei Witz (die Piccoloflöte!) und viel Feuerwasser, das zu einem Kollektivrausch führt. Oramo legt eine nachvollziehbare Linie durchs bunte Geschehen und meistert auch die letzte Aufgabe, nämlich ein Triumphfinale anzuhängen, das so ganz und gar nicht nach dem klingt, wie man sich ein Triumphfinale bei Wagner oder gar bei den Südländern vorstellen würde, in bewundernswerter Weise, willig gefolgt vom Gewandhausorchester, das unter Beweis stellt, dass es auch mit für den gemeinen Mitteleuropäer ungewohnt anmutenden Tonfarben klarkommt, sogar in eigentümlichen Kontexten.


Roland Ludwig



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