Destouches, A. C. (Niquet)
Callirhoé
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Info |
Musikrichtung:
Barock Oper
VÖ: 01.05.2007
Glossa / Note 1 2 CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. GCD 921612
Gesamtspielzeit: 99:55
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Die 50 Jahre zwischen Jean-Baptiste Lullys Tod und Jean-Philipp Rameaus erster Oper galten in französischen Operngeschichte lange als wenig interessante Übergangszeit, in der sich zahlreiche Lully-Epigonen mehr oder weniger erfolgreich um eine Weiterführung der Tradition bemühten. Erst in den vergangenen 20 Jahren haben ambitionierte Wiederaufführungen vergessener Werke gezeigt, dass es die Generation nach Lully durchaus verstanden hat, das Modell des Gründervaters mit eigenen Ideen anzureichern und weiterzuentwickeln. Anfang der 1990er Jahre brachte William Christie mit Marc-Antoine Charpentiers „Medée“, André Campras „Idomenée“ und Michel Pignolet de Monteclairs „Jephte“ gleich drei originelle Vertreter aus dieser Zeit heraus (harmonia mundi / Erato/Warner Classics); Marc Minkowski steuerte Marin Marais „Alcyone“ bei (Erato / Warner Classics). Christies ehemaliger Assistent, der Cembalist Christophe Rousset, hat gerade in Frankreich mit seinem eigenen Ensemble Henry Desmarests „Venus und Adonis“ herausgebracht (Ambroisie). Jetzt legt Hervé Niquet auf seinem Stammlabel Glossa mit Callirhoé von André Cardinal Destouches den ersten Teil einer Trilogie vor, die einigen großen mythischen Frauengestalten auf der französischen Opernbühne gewidmet ist. Folgen sollen Lullys „Proserpine“ und Marais „Semele“.
(NICHT NUR) IM FAHRWASSER DER TRADITION
Der heute bestenfalls in einschlägigen Lexika verzeichnete Destouches war seinerzeit durchaus ein Erfolgskomponist. In freier Adaption der antiken Vorlage erzählt Callirhoé die Geschichte der Königstocher gleichen Namens, die die Liebe des Bacchus-Priesters Corésus zurückweist, weil sie einen anderen liebt. Der eifersüchtige Priester bringt draufhin den Zorn der Götter gegen die Liebenden in Stellung. Am Ende soll das Mädchen geopfert werden. Doch die todesmutige Liebe des jungen Paares bezwingt schließlich den Widersacher: Der verzweifelte Corésus tötet sich selbst auf dem Altar.
Musikalisch finden sich in den Rezitativen viele jener unverzichtbaren Standard-Formulierungen, die so auch von Lully stammen könnten. Aber in den expansiven melodischen Bögen und chromatisch angeschärften Harmonik geht Destouches ganz eigene Wege. Das belebt die Deklamation ungemein und intensiviert den Affekt, vor allem in den großen Monologen der Hauptpersonen. Das düstere Divertissement des 2. Aktes mit seinen athletischen Choreinsetzen und den ekstatischen Anrufungen des Priesters scheint die Beschwörungsszene in Rameaus „Zoroastre“ (1749/1756) vorwegzunehmen – oder hat sich etwa Rameau hier ganz einfach von Destouches inspirieren lassen? Mitreißend ist die dichte Verzahnung von Chören und Soli am Ende des 4. Aktes, eine Lösung, die Gluck gefallen hätte und von den Interpreten mit Verve umgesetzt wird. Tänze und Chöre sind durchweg dicht gearbeitet, in letzteren besticht der sonore und harmonisch reiche Satz: eine wuchtige barocke Ausstattung, fern aller Rokoko-Zartheiten.
VOM KOMPONISTEN GEKÜRZT: DIE 2. FASSUNG
Man muss das Werk schon ein wenig in dieser historischen Perspektiven hören, um seine konventionellen wie originellen Anteile richtig wahrzunehmen. Destouches hat das Libretto 1712 in einer ersten Fassung nach dem typischen Lully-Schema vertont: Prolog mit Königslob, expressive Eröffnungsmonologe, umfangreiche Rezitative, kurze Airs sowie zahlreiche Tänze und Chöre in den verspielten Divertissements, die jeden der fünf Akte beschließen. 1731 überarbeitete er das Werk grundlegend. Neben vielen Straffungen und einer Verdichtung der musikalischen Substanz hat die Streichung des finalen Divertissements für die Gesamtanlage die weitreichendsten Folgen gehabt. Dass Destouches seine Oper jetzt mit dem Selbstmord des Corésus und einem schlichten, ins Nichts verklingenden Rezitativ enden ließ, kam einer Revolution gleich. Die gewaltige Spannung, die Destouches im 5. Akt aufgebaut hat, fand keine Entspannung oder Zerstreuung in einem großen Finale mehr. Nicht die von übernatürlichen Mächten bedrohte Liebe der beiden Protagonisten war nun länger das tragische Zentrum der Oper. Jetzt wurden das fatale Begehren und der Selbstmord des Bacchus-Priesters zum Dreh- und Angelpunkt. In einer Zeit, in der die großen Musiktragödien langsam aus der Mode kamen und durch leichtere Gattungen verdrängt wurden, war dies ein deutliches Bekenntnis zur Tradition, aber auch zur dramatischen und emotionalen Wahrheit.
NIQUETS JÜNGSTE VERSION: WEITERE STRICHE
Hervé Niquet geht in seiner Fassung der Oper (leider) noch über Destouches Änderungen hinaus, wenn er auch den Prolog und einige Airs und Tänze aus den Divertissements der Akte 3 und 4 wegfallen lässt. Das ist im Zeitalter der Gesamteinspielungen unpassend und bei noch reichlich Platz auf den beiden CDs zudem völlig unnötig. Glücklicherweise schadet es dem musikalischen Drama nicht: Destouches Oper hat für eine Tragedie lyrique ein ausgesprochen hohes dramaturgisches Tempo, das eher an Gluck als an Lully oder gar Rameau denken lässt. Vor allem die fließenden Übergänge zwischen den geschmeidigen Rezitativen und prägnant formulierten Airs sorgen dafür, dass das Werk nicht in einzelne Nummern zerfällt, sondern von einer stetigen musikalischen Dynamik angetrieben wird. Dabei bleibt freilich immer noch genügend Raum für die geschätzte üppige Theatralik, für intime Zwiegespräche, aber auch große Tableaus und große Gesten.
VITALE EINSPIELUNG
Diese von Vitalität durchpulste Einspielung ist trotz der zusätzlichen Kürzungen aus einem Guss. Niquet versteht es, bei Destouches die Kontraste herauszuarbeiten und Details plastisch zur Geltung zu bringen, ohne die großen architektonischen Bögen aus dem Blick zu verlieren. Auffällig der vergleichsweise opulente, legatogestützte Klangstrom, der auf einem kernigen, erdfarbenen Bassfundament aufruht: eine Tendenz, die sich schon in letzten Aufnahmen Niquets bemerkbar machte und nicht jedem Freund historisch informierter Klangrede zusagen dürfte. Die warme, leicht hallige Akustik des Aufnahmeortes unterstreicht die körperliche Wirkung der Musik, die noch bei den ganz einfach begleiteten Rezitativen sehr präsent und voll klingt. Majestätisch ist die Wirkung vor allem in den großen Ensembles. Le Concert Spirituel verfügt inzwischen nicht nur über vorzügliche Instrumentalisten und Choristen, sondern auch über ein bestens aufeinander eingespieltes Solistenteam. Mit deklamatorischem Feuer und stimmlich gereift fasziniert Stéphanie d’Oustrac in der Hauptrolle. Mit seinem samtig-virilen Bass verleiht João Fernandes dem Bacchuspriester Corésus ein kraftvoll-kantiges, leidenschaftliches Profil. In der Höhe etwas eng klingt mitunter die Stimme des ansonsten tadellosen hohen Tenors von Cyril Auvity in der Rolle des jugendlichen Helden. Auch die übrigen Solisten füllen ihre Rollen mehr als adäquat aus.
Fazit: Musikalisch und vor allem dramaturgisch ein originelles missing link der französischen Barockoper, das bei Hervé Niquet und seinem famosen Ensemble in denkbar kompetenten und engagierten Händen ist.
Georg Henkel
Trackliste |
CD I Akt 1 und 2 45:52 CD II Akt 3, 4 und 5 54:03 |
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Besetzung |
Stéphanie d’Oustrac, Callirhoé Cyril Auvity, Agénor João Fernandes, Corésus Ingrid Perruche, Königin Renaud Delaige, Minister Stéphanie Révidat, eine Prinzessin / eine Hirtin
Chor und Orchester „Le Concert Spirituel“
Hervé Niquet, Ltg. und Cembalo
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