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Reviews
Sciarriono, S. (Xasax)

Pagine & Canzoniere da Scarlatti


Info
Musikrichtung: Saxophonquartett

VÖ: 01.04.2004

Zig Zag Territories / Note 1
CD DDD / Best. Nr. ZZT 031001


Gesamtspielzeit: 68:14



KREATIVE TRANSSRIKPTIONEN

DIE ERNSTHAFTE ERFINDUNG DES HERRN SAX

Gleich eine ganze Instrumentenfamilie war es, die der französische Instrumentenbauer Adolphe Sax ab 1840/41 der musikinteressierten Pariser Öffentlichkeit vorstellte: Sein Saxophon baute er in acht Größen, vom hohen Sopranino bis zum abgrundtiefen Subkontrabass. Es war wie die Klarinette mit einem einzigen Rohrblatt versehen, aber einfacher zu spielen als diese. Sein charakteristisches, vor allem in der Mittellage sonores, vibratoreiches Timbre mischt die warmen, lyrischen Klangfarben von Oboe, Fagott und Klarinette mit der Brillanz von Horn und Trompete. Je nachdem kann es samtweich und einschmeichelnd oder harsch und „röhrig“ klingen, kommt aber auch der menschlichen Singstimme nahe, was einen vielfältigen Einsatz ermöglicht.
Rasch fand es Eingang in die Militärkapellen, etwas später auch in die Orchester- und Opernmusik von Meyerbeer, Bizet, Debussy, Ravel und Stravinsky, um nur einige zu nennen.
Wer hätte das gedacht: Der „Klassiker“ aus Big-Band und Jazzmusik, der heute in Unterführungen ebenso daheim ist wie im gehobenen Clubambiente und der es bis zum erotischen Attribut gebracht hat, ist eigentlich ein ganz „ernsthaftes“ Instrument!
Und wer hätte gedacht, dass dieses Instrument schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts die Weihen einer anderen, ausgesprochen klassischen Gattung erhielt: Als Saxophonquartett trat es neben das seit Mozart und Haydn etablierte Streitquartett! Man könne sich keinen wärmeren Klang, keine vollkommenere Homogenität, keine sauberere Pointierung, keine unmittelbarere Musikalität vorstellen, so der Publizist Honerée Arthur 1936 über das Saxophonquartett.
435 Originalkompositionen und 60 Bearbeitungen sind seitdem für dieses Ensemble geschrieben worden - eine erkleckliche Zahl, die freilich nicht verhindern konnte, dass das Genre eine eher exotische Erscheinung geblieben ist.

INSPIRATION FÜR DIE ZEITGENOSSEN

Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino (* 1947) hat dem Saxophonquartett zwei Sammlungen mit Transkriptionen gewidmet, die das 1991 gegründete französische Ensemble Xasax für diese neue Produktion des Labels Zig-Zag-Territories eingespielt hat.
Sciarrionos Bearbeitungen unter dem Titel Pagine, die 2001 entstanden sind, umfassen Werke mehrerer alter (und neuerer) Meister. Madrigale von Carlo Gesualdo finden sich da neben Stücken von Bach, Mozart und Cole Porter oder George Gershwin. Ein Jahr später vollendete Sciarrino den zweiten Teil, der einem einzigen Komponisten gewidmet ist: Domenico Scarlatti. In den Canzoniere da Scarlatti hat der Komponist sechs der über 500(!) Cembalosonaten dieses Tastenvirtuosen verarbeitet.

Das letzte Wort ist mit Bedacht gewählt: Sciarrino hat nicht einfach Note-um-Note-Übertragungen erstellt, sondern die Vorlagen sehr überlegt in die ganz andere Klangwelt des Saxophonquartetts übersetzt. Dazu mussten, wie im Fall von Gesualdo, fünfstimmige Madrigale so eingerichtet werden, dass sie von vier Intrumenatlisten ausgeführt werden können - Sciarrinos Lösung fordert auch von den Spielern einiges an Virtuosität. Außerdem wünschte der Komponist eine gewisse Homogenität, sowohl klanglich als auch stilistisch. Die Stücke werden durch seine Nachschöpfung als Werke einer bestimmten Epoche unkenntlich; was bleibt ist ihre Modernität. Und genau auf diese habe er es abgesehen, so der Komponist.

Das Ergebnis ist faszinierend: Gewiss kann man hier noch Gesualdo von Bach, Mozart von Gershwin oder Porter von Scaralatti unterscheiden - wenn man sich anstrengt. Bei Sciarrino sind aus Stücken mit ursprünglich ganz unterschiedlicher Funktion und mit ganz unterschiedlichem Ausdruck nunmehr Werke absoluter Musik geworden.
Für diese hat er mit dem flexiblen Saxophonquartett ein kongeniales Medium gefunden. In den Bearbeitungen beginnt die Musik, Merkmale anderer Zeiten und Stile anzunehmen: Mozart klingt ausgesprochen exotisch, gelegentlich klezmer-artig und kommt auch Cole Porter oder George Gershwin plötzlich sehr nahe - und umgekehrt. Oder grüßen sich nicht doch vielmehr Bach und Mozart von Ferne? Apropos Bach: Auch zwischen seinem „Kyrie Gott Vater Ewigkeit“ und einem anonymen mittelalterlichen Stück ergeben sich eigentümliche Verwandtschaften. Und Scarlattis Modernität und Einfallsreichtum treten, befreit von der Klangaura des Rokoko, einmal ungefiltert hervor.
Hat man die Originale im Ohr, dann überzeugen die per se „abstrakteren“ Stücke der mittelalterlichen und barocken Meister in Sciarrinos Transskriptionen mehr, als z. B. Mozarts Adagio aus der Grand Partita, weil die Instrumentalvorstellungen des Originals hier schon viel spezifischer auf das harmonische Gefüge der Musik abgestimmt sind. (Allerdings kommt der schillernde Mischklang der Saxophone der mozartschen Holzbläserbesetzung im Timbre doch sehr nahe - was dieser Meister wohl aus Adolphe Sax’ Erfindung gemacht hätte …?)

Xaxax musiziert Sciarrinos Übertragungen mit der nötigen Finesse und verblüfft durch die Fülle an Nuancierungen, Temperaments- und Farbwechseln. Die „amorphe“ Klanglichkeit der Instrumente wird gebührend ausgespielt: Mal klingt’s nach Klarinette oder Bassethorn, mal nach menschlicher Stimme, dann wieder nach Streichinstrument oder völlig abstrakt. Und manchmal natürlich auch einfach nach Saxophon.
Ein spannendes Vexierspiel zwischen den Zeiten und Stilen, das einmal mehr bestätigt, dass gute Musik immer auch zeitlos moderne Musik ist. Außerdem dürften hier selbst notorische Gegner des Saxophons bekehrt werden (ich weiß, wovon ich spreche).



Georg Henkel



Trackliste
1Madrigal „Itene miel sospiri“ (Gesualdo)02:48
2Madrigal „Tu m’uccidi, o crudele“ (Gesualdo)02:59
3Fughetta über “Dies sind die heiligen zehn Gebot” (Bach)01:19
4Kyrie „Gott Vater Ewigkeit“ (Bach)02:00
5Sonate L. 223 (Scarlatti)03:43
6Sonate L. 257 (Scarlatti)08:08
7Adagio aus der Grand Partita (Mozart)04:53
8I’ve got you under my skin (Porter)05:30
9O virgo splendens (Anonym Ars Nova)02:47
10Tres dous complains (Anonym Ars Nova)03:44
11Who cares? (Gershwin)01:33
12Sonate L. 215 (Scarlatti)03:44
13Sonate L. 238 (Scarlatti)04:12
14Sonate L. 230 (Scarlatti)02:17
15Sonate L. 222 (Scarlatti)05:06
16Sonate L. 428 (Scarlatti)04:26
17Sonate L. 439 (Scarlatti)04:10
18Sonate L. 448 (Scarlatti)03:02
19Sonate L. 445 (Scarlatti)01:53
Besetzung

Marcus Weiss, Sopransaxophon
Pierre-Stéphane Meugé, Altsaxophon
Jean-Michel Goury, Tenorsaxophon
Serge Bertocchi, Baritonsaxophon


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