Gaetano Donizetti (1797-1848): Linda di Chamounix
Edita Gruberova (Linda) - Deon van der Walt (Carlo, Visconte di Sirval) - Jacob Will (Il Marchese di Boisfleury) - László Polgár (Il Prefetto), Cornelia Kallisch (Pieretto)
Orchester und Chor des Opernhauses Zürich
Leitung: Adam Fischer
Was kommt uns bei Donizetti (1797-1848) in den Sinn? - "Lucia di Lammermoor" natürlich, der "Liebestrank" vielleicht und "Don Pasquale", aber "Linda die Chamounix" wohl kaum. Nun, bei rund 70 Opern aus Donizettis Feder fällt die Übersicht schwer und die meisten Bühnen begnügen sich mit der regelmäßigen Aufführung der bekannteren Werke. Ganz zu Unrecht, wie diese DVD beweist, denn auch zu der erst 1842 entstandenen "Linda" erdachte der italienische Komponist eine facettenreiche Musik, die über den bloßen Rahmen für Koloraturglanzleistungen der Primadonna weit hinausgeht.
Die Geschichte handelt von dem schönen, wohlbehüteten, aber armen Mädchen Linda, dass bei seinen Eltern in einem elenden Bergdorf lebt. Sie weckt die Begehrlichkeiten des Dorfpatrons, eines verkommenen Adeligen, der sich als Wohltäter andient, in Wahrheit aber Linda zu seiner Geliebten machen will. Sie hingegen liebt den vermeintlich armen Maler Carlo, der sich später als Visconte di Serval und Neffe des Patrons entpuppt und Linda in Paris eine komfortable Wohnung spendiert. Ihr Vater glaubt die Ehre der Tochter von einem Verführer geschändet und verstößt sie, sie selbst wähnt sich vom Geliebten hintergangen, als sie von dessen Hochzeitsvorbereitungen mit einer anderen erfährt. So viel
Melodramatik bleibt nicht ohne Konsequenzen: Linda verfällt dem Wahnsinn.
Ihr Jugendfreund Pierotto bringt das kranke Mädchen nach Hause. Erst hier klären sich die Missverständnisse auf. Carlo, den seine Mutter gegen seinen Willen zunächst zu einer standesgemäßen Heirat zwingen wollte, beteuert Linda seine aufrichtige Liebe und kann sie schließlich aus dem Wahn befreien.
Die nicht eben sonderlich originelle, aber dramaturgisch effektvolle Geschichte zeigt eine Gesellschaft im Umbruch, in dem der Adel zwar seine beherrschende Stellung verliert, dessen Tyrannei jedoch sogleich durch die Zwänge einer engstirnigen Kleinbürger- und Doppelmoral abgelöst wird.
Die Züricher Inszenierung aus dem Jahre 1996 ist angenehm diskret und zurückhaltend. Ein sparsames Bühnenbild begnügt sich mit der Andeutung etwa der dörflichen Szenerie. Der Versuchung, ein plüschiges Heidi-Idyll zu zeichnen, wird konsequent widerstanden. Stattdessen wurde Wert gelegt auf eine präzise Personenführung.
Wie alle Donizetti-Opern steht und fällt auch diese mit der Primadonna. Edita Gruberova, damals immerhin bereits 50 Jahre alt, bietet eine Linda der Spitzenklasse. Sie beherrscht meisterlich, was den Opernstar ausmacht, nämlich mit der Stimme zu spielen, sie zum darstellerischen Instrument zu erheben. Das ist weit mehr, als die halsbrecherischen Koloraturen "nur" fehlerfrei zu singen. Ihr Stimme erscheint hier noch immer tatsächlich fast mädchenhaft rein und hell, voll silberglänzender Strahlkraft. Das An- und Abschwellenlassen der Töne, ihr atemberaubendes Halten und Dehnen, chromatische Tonreihen oder Triller - der Gruberova stehen alle Mittel des Belcanto zu Gebote, wie kaum einer Zweiten
unserer Tage. Kein Wunder also, dass Zürich sich entschied, ein 50jähriges "Mädchen" auf die Bühne zu stellen. Mögen manche Bewegungen auch nicht mehr jugendlich wirken, die Frische der Stimme macht das sogleich vergessen.
Das Publikum der live mitgeschnittenen Aufführung jubelt ein ums andere Mal und auch der Zuschauer daheim wird sich zu manchem Szenenapplaus hingerissen fühlen, nicht nur bei der auch hier unvermeidlichen Wahnsinnsarie.
Der Gruberova zur Seite steht neben einem glänzend disponierten, hellwachen Orchester unter Adam Fischers kundiger, straffer Leitung ein fast durchweg auf hohem bis höchstem Niveau agierendes Sängerensemble: Deon van der Walt gibt den Geliebten mit tenoralem Schmelz, ohne die Unsitte der stimmlichen Übertreibung zu pflegen. Hin und wieder hat man gar den Eindruck, er halte sich zugunsten der Primadonna ein wenig zurück. Kein Fehler, denn in den Höhen ist sein Tenor in den Schlußhöhen nicht immer ganz lupenrein.
Hervorzuheben sind daneben die Leistung von Armando Ariostini als Lindas Vater Antonio, sowie die László Polgárs als Präfekt. Sein Zusammenspiel mit van der Walt zu Beginn des dritten Aktes stellt einen zusätzlichen sängerischen Glanzpunkt der Einspielung dar, wenn auch Polgárs Mimik jener von Dracula-Darsteller Christopher Lee manchmal bedrohlich nahe kommt.
Wunderbar überdies, wie Cornelia Kallisch die Rolle des verträumten Pierotto ausfüllt und seinen scheinbar schlichten Liedern und Balladen zu bewegender Kraft verhilft.
Einzig Nadine Asher vermag als Lindas Mutter nicht zu überzeugen: Wenn auch ihre enge, glanzlose Stimme gut zur abgearbeiteten Bauersfrau vom Bergdorf paßt, so ist sie doch für den Hörer kein Genuß.
Einen Genuss besonderer Art verschafft demgegenüber noch Jacob Will als verkommener, aber später (angeblich?) geläuterter Marchese. Will überschlägt sich fast vor Spiellaune, sein Adeliger erinnert in seiner Aufgeblasenheit und Eitelkeit zuweilen an Auftritte des selbsternannten Königs von Mallorca, Jürgen Drews, so dass es neben der überwiegend rührselig-tränenreichen Handlung auch mal etwas zu Lachen gibt.
Die Bild- und Tonqualität der DVD läßt keine Wünsche offen, störende Nebengeräusche gibt es bei dem Live-Mitschnitt so gut wie überhaupt nicht, dennoch kommt die Atmosphäre der Aufführung mit einem hörbar begeisterten Publikum ausreichend über.
Mithin ein Muß für jeden Fan der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts und für alle, die der hohen Kunst des Belcanto etwas abgewinnen können.
18 von 20 Punkte
Sven Kerkhoff