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Musik an sich
 
Die Aura der Musik - Orchesterwerke von BRUCKNER und FELDMAN
SWR Faszination Musik / Hänssler Classic 2 CD DDD (AD 1990 / 1997) / Best. Nr.: 93.061
Romantik und Moderne / Orchestermusik
Cover
 

Anton Bruckner (1824-1896): Symphony Nr. 8 C-Moll / Morton Feldman (1926-1987): Coptic Light
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
Leitung: Michael Gielen
www.haenssler-classic.de

Welchen Grund könnte es geben, ein Werk der Spätromantik - in diesem Fall Anton Bruckners 8. Sinfonie (1884/87) - mit einem Werk der Neuen Musik - hier Morton Feldmans spätem Orchesterstück "Coptic Light" (1985/86) - zu koppeln? Zwar schweigt sich das Booklet der vorliegenden Aufnahme darüber aus. Für eine gemeinsame Veröffentlichung sprechen indes nicht nur praktische, sondern durchaus auch ästhetische und programmatische Motive.

Den himmlischen Längen der Brucknerschen Sinfonik mit ihren aus "Urklängen" langsam wachsenden Themen, die nicht nur durch motivische Arbeit, sondern auch vermittels ständiger orchestraler Registrierung entwickelt werden, korrespondiert Feldmans "richtungsloses" Arbeiten mit sich scheinbar endlos fortzeugenden, variabel orchestrierten Mustern bzw. Patterns. In beiden Fällen wechseln Phasen klanglicher Verdichtung mit vermeintlichen "Leerstellen" ab und bedingen ein intensives klangliches Hell-Dunkel-Spiel (das sogn. Chiaroscuro).
Dieses Helldunkel ist im Fall von Feldmans "Coptic Light" geradezu programmatisch: "Ein wichtiger technischer Aspekt der Komposition beruht auf der von Sibelius gemachten Beobachtung, das Orchester unterscheide sich vom Klavier hauptsächlich dadurch, dass es kein Pedal besitzt. Davon ausgehend, machte ich mich daran, ein Orchesterpedal zu schaffen, das sich kontinuierlich in Nuancen verändert." Diese Nuancierungen ergeben in Feldmans Komposition zarte, durchsc

Während der pianistisch ausgebildete Feldman seinen psychedelisch anmutenden "Pedaleffekt" durch sublim variierte asynchrone Überlagerungen der Instrumente erreicht, orientiert sich Bruckner, zeitlebens Organist am Linzer Stift St. Florian, an den eher flächigen Klangwirkungen der "Königin der Instrumente". Er orchestriert seine Sinfonien, indem er die Instrumentalgruppen wie die Register einer Orgel kombiniert und mitunter zu gewaltigen, gleissenden Klangmassiven auftürmt. Nicht nur bei solchen Höhepunkten, sondern auch in vielen dichtgewobenen elegischen Passagen kommt die musikalische Entwicklung nahezu zum Stillstand; Harmonik, Rhythmik, Melodik treten zunehmend hinter eine reine Klangfarbenmusik zurück - ein auf die Musik Feldmans und überhaupt des 20. Jahrhunderts vorausweisender Moment.
Mit seinem riesigen Klangapparat (u. a. sind dreifacher Holzbläserbesatz, 8 Hörner und vier Kontrabasstuben gefordert), einer Harmonik auch jenseits tonaler Grenzen und der thematischen Erfindung orientiert sich Bruckner im Einzelnen durchaus an der Musik Richard Wagners. Doch der Gesamteindruck ist von ganz individueller Qualität. Denn Bruckners musikalische Welt, so sehr sie auch zeitlich der Spätromantik zugehört, wurzelt im Barock.

Man sehe sich nur die aufschießenden barocken Architekturen der Linzer Stiftskirche mit ihren wild verkröpften Gesimsen und dem schäumenden Stuck an, dazu die monumental ausladenden Deckenfresken, den bewegten, subtil ausgeleuchteten Figurenschmuck und überhaupt die pathetisch-theatralische Raumwirkung. Die Sinnlichkeit barocker Katholizität verbindet sich bei Bruckner mit einer eigentümlich ungebrochenen (wenngleich nicht ungefährdeten) tiefen persönlichen Frömmigkeit. Barocke Irrationalität und Klarheit, barocke Sinnlichkeit und barockes Streben nach Geistigkeit und Unendlichkeit scheinen noch einmal am Ende des 19. Jahrhundert auf im Gewand "moderner" Musik. Wenn Bruckner seine neunte und letzte Sinfonie "dem lieben Gott" widmet, dann mag man darüber lächeln. Doch so kauzig, devot und naiv der Komponist auch als Person erscheinen mag: Seine Musik vollzieht die Synthese vielfältigster, auch in die Zukunft weisender musikalischer Mittel. Dabei sprengt sie den vermeintlich engen und provinziellen Rahmen katholischer Gläubigkeit ebenso, wie sie sich souverän jenseits aller ideologischer Grabenkämpfe (Wagner contra Johannes Brahms) behauptet.

Haben im sinfonischen Schaffen Bruckners sein liturgisches Amt und die noch weitgehend intakte kirchlich-religiöse Landschaft Österreichs ihre Spuren hinterlassen, so gibt es auch bei Feldman außermusikalische Inspirationsquellen: Der amerikanische Komponist sammelte antike Knüpfteppiche, insbesondere solche, bei denen die Muster gewollte Unregelmäßigkeiten aufwiesen.

Werktitel wie "Crippeld Symmetrie" (1983) deuten darauf hin, wie sehr den Komponisten derartige Phänomene auch in seiner Musik beschäftigten. Auch das hier eingespielte "Coptic Light" ist davon angeregt. "Aus lebhaftem Interesse an allen Arten der geheimnisvollen Webkunst des Mittleren Ostens besichtigte ich kürzlich die erstaunlichen Beispiele früher koptischer Textilien in der Dauerausstellung im Louvre. An diesen Fragmenten gefärbten Tuches berührte mich, wie sie doch etwas wesentliches von der Aura jener Kunst vermitteln können, aus der sie stammen. Diesen Gedanken übertrug ich auf die Musik und fragte mich, welche Aspekte für die Aura der Musik seit Monteverdi als bestimmend angesehen werden könnten, wenn diese Musik zweitausend Jahre später gehört werden würde."
Rückt bereits bei Bruckner die Klangfarbe immer stärker in den Vordergrund, so ist dieser Aspekt bei Feldman zum bestimmenden Parameter geworden, ja, die Musik von "Coptic Light" ist im Grunde nur noch Klangfarbenmusik, klingende Atmosphäre. Damit glüht in ihr auch jene Aura "westlicher Musik" nach, die, an der Nahtstelle zur Moderne, in Gestalt von Bruckners Sinfonik noch einmal epochenübergreifend musikalische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenführt.

Durch die Interpretation des klassischen Repertoires wie zeitgenössischer und eigener Werke sind musikalische Grenzüberschreitungen seit jeher integraler Bestandteil von Michael Gielens Arbeit. Wie daher nicht anders zu erwarten, bietet der 1927 geborene Komponist und Dirigent zusammen mit dem SWR-Orchester hochkompetente Einspielungen der beiden Werke.

Mit über 80 Minuten Dauer stellt Bruckners 8. Sinfonie an den Interpreten und Hörer höchste Anforderungen. Als Einstieg in das Oeuvre des Komponisten scheint sie daher zunächst weniger geeignet zu sein (hier wäre z. B. die 4., die sogenannte "Romantische Sinfonie" Bruckners, eine Empfehlung). So empfanden dies auch schon die Freunde und Schüler Bruckners, den sie zu einer Überarbeitung und Kürzung drängten. Gielen hat sich hier jedoch für die Urfassung entschieden, in der sich Bruckner unmittelbarer, persönlicher ausgedrückt hat, als in der strafferen Zweitfassung. Der riesenhaften Disposition der Erstfassung, die vor allen in den ausufernden Architekturen des Adagios und Finalsatzes ihren Ausdruck findet, ist interpretatorisch nur mit einem ausgesprochenen Sturkturbewußtsein beizukommen. Die Details wollen ebenso wie die "Leerstellen" in den musikalischen Fluss integriert sein, damit das Werk nicht in zusammenhangslose Details zerfällt. Gielen und sein bestens präpariertes Orchester laufen dabei zu keinem Augenblick Gefahr, Bruckner auf die "schönen Stellen" und Höhepunkte zu reduzieren oder ihn im undifferenziert-wattigen Wohlklang zu ertränken. Dabei kommen die ausgefeilte, spannungsvolle Artikulation und Phrasierung sowie die abgewogenen Tempi der Musik sehr zu gute. So wird die diffizile Kontrapunktik ebenso hörbar wie die raffinierte Orchestrierung. Doch gehen Strukturbewußtsein und vorwärtsdrängende Dynamik keineswegs auf Kosten der Klangpracht: Grandios geraten die gewaltigen orchestralen Aufgipfelungen mit ihrem glutvoll realisierten Blechbläsersatz, warm und rund klingen die elegischen Passagen. Zu einem Höhepunkt gerät hier besonders das spannungsvolle und weit ausschwingende, aber keinesfalls ziellos schweifende Adagio. Ebenso wie das gewaltige Finale bereitet es aufgrund der konzentrierten Darbietung keine Orientierungsschwierigkeiten für den Hörer - man ist hier stets gegenwärtig und nimmt Teil an der Entwicklung der Musik. Lediglich das eher kantig aufgefaßte Scherzo hätte ich mir geschmeidiger, pulsierender, ekstatischer gewünscht.
Eine vorbildliche Aufnahmetechnik bildet die von Gielen herauspräparierten instrumentalen Tiefenschichten ab, ohne den Klang zu skelettieren. So erstrahlt die Partitur in ungemein satter "barocker" Farbigkeit.

Auf gleichem Niveau bewegt sich die Interpretation von Feldmans "Coptic Light", das hier rundum überzeugt. Die meisterliche Orchesterbehandlung mit ihren mikroskopischen rhythmischen Verschiebungen und fein austarierten dynamischen Abstufungen erfordert genau jenes instrumentale "Atmen", das hier vom SWR-Orchester praktiziert wird. Maßstäblich, wie homogen Klavier, Schlagzeug, Streicher und Bläser trotz ihrer individuellen Timbres in den irisierenden Gesamtklang eingebettet werden. Die Musiker agieren unter Gielens Leitung mit größter Delikatesse; der Klangeindruck ist völlig organisch, die Musik verbleibt bis zu ihrem plötzlichem Ende unter Spannung und gerät nicht zur gefälligen akustischen "Auslegeware".

Diese Nuancierungen ergeben in Feldmans Komposition zarte, durchscheinende und amorphe Klangmuster. Obwohl das Material stets überhörbar bleibt, verliert man sich als Hörer doch im Kaleidoskop dieser über knapp 24 Minuten unablässig gleitenden und pulsierenden Musik.

Eine musikalisch und technisch beeindruckende, in der Zusammenstellung der so verschiedenartigen Werke außerdem sehr anregende Produktion.

17 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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