Musik an sich www.midifiles.de

Reviews


Inhalt
News
Reviews
Leserbriefe
Impressum



Musik an sich
 
Dorfgeflüster - BENJAMIN BRITTENs komische Oper "ALBERT HERRING"
Naxos 2 CD DDD (AD 1996) / Best. Nr.: 8.660107-08
20. Jahrhundert - Oper
 

Benjamin Britten (1913-1976): Albert Herring
Christopher Gillet (Albert Herring) - Josphine Barstow (Lady Billows) - Felicity Palmer (Florence Pike) - Robert Lloyd (Superintendent Budd) - Peter Savidge (Vicar, Mister Gedge) - Gerald Finley (Sid) - Ann Taylor (Nancy) - Della Jones (Mrs. Herring) - Susan Gritton (Miss Wodsworth) - Stuart Kale (Mayor, Mr. Upford)
Northern Sinfonia
Leitung: Steuart Bedford
www.naxos.de

Die Premiere von Benjamin Brittens düster-dramatischer Oper "Peter Grimes" kam 1945 einer Sensation gleich. Seit Henry Purcells Tod im Jahre 1695 hatte es keine originäre britische Oper von Weltrang mehr gegeben. "Peter Grimes" erzählt die tragische Geschichte eines unangepaßten Außenseiters, der, von seinen eigenen inneren Dämonen getrieben, schließlich untergeht. Der Komponist kleidete das Drama in eine eindringliche Musik von großer Dichte und emotionaler Kraft, die die englische Musiktradition ebenso wenig verleugnete, wie sie sich auch modernen Mitteln aufgeschlossen zeigte. Bis zu seinem frühen Tod 1976 blieb Britten eine der vernehmlichsten, individuellsten Stimmen in der Musik Großbritanniens und des 20. Jahrhunderts, obwohl (oder vielleicht auch: weil) er sich mit seinen Kompositionen abseits der neutönerischen Strömungen der 50er und 60er Jahren hielt.

1947 folgte mit "Albert Herring" ein komödiantisches Pedant zu "Peter Grimes". Wieder geht es um einen Außenseiter und seinen Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz. Doch während der eigenbrötlerische Peter Grimes von Anfang an außerhalb der Gesellschaft steht und zur Projektionsfläche unterdrückter Ängste und Aggressionen wird, existiert Albert Herring gewissermaßen im Zustand einer totalen Überidentifkation mit dem System und dessen Normen: Als schüchternes Muttersöhnchen und braver Angestellter eines Gemüseladens scheint er das inkarnierte Ideal des Langweilers und Spießers zu sein.
Anlässlich der alljährlichen Maifeiern in seiner Heimatstadt wird eine tugendhafte Jungfrau für die Rolle der Maikönigin benötigt. Die Wahl fällt, Mangels geeigneter weiblicher Kandidatinnen, auf Albert. Heimlich mit Alkohol versetzte Limonade sorgt dafür, dass sein beschwipster Auftritt zur allgemeinen Gaudi gerät. So weit, so demütigend. Doch Albert dreht den Spieß um: Angeregt durch das Techtelmechtel seines Freundes Sid mit der schönen Nancy, brennt er durch, wird von der überdrehten Einwohnerschaft für tot gehalten, läßt aber in Wirklichkeit, mit Verlaub gesagt, auch einfach mal die Sau raus. "I can't remember everything!" ist sein Kommentar, als er sich am nächsten Morgen den verdutzen Dorfbewohnern präsentiert. "My only way out was a wild explosion!" gesteht er der entsetzten Mama ...

Die eher schlichte Mähr mit skurrilen Charakteren und einem liebevoll gezeichneten Dorfambiente hat Britten für die Truppe des damals neugegründeten Tournee-Theaters "English Opera Group" in die Form einer charmanten Kammeroper gegossen. Schier unglaublich ist der musikalische Reichtum: Das "Orchester" besteht aus nur 12 Spielern (solistische Streicher und Holzbläser, Klavier, Harfe und Schlagzeug) - doch was für eine Klangfülle, was für eine Spiel instrumentaler Farben und melodischen Figuren, was für ein Raffinement der Charakterisierung gibt es hier zu hören! Da erweist sich Brittens ganze Meisterschaft.
Über weite Strecken bestimmt ein ausgesprochen sprachnaher Duktus, ein flottes Parlando den Ton. Arien oder geschlossene Nummern sind sparsam in den dramatischen Fluss der Musik integriert. So ist "Albert Herring" ein ausgesprochenes Bühnenwerk, eine "Komödie in Musik", die eigentlich die Szene braucht, um ihre Wirkung voll zu entfalten. Für den Hörer zu Hause heißt es da, aufmerksam sein; leider hat Naxos im gewohnt sparsamen Booklet kein Libretto, sondern nur eine Inhaltsangabe abgedruckt.

Vorliegende Einspielung mit einer illustren britischen Sängerriege ist die Wiederveröffentlichung einer bereits 1997 bei Collins Classics erschienen Produktion. Unter Steuart Bedford agieren die Sänger/innen höchst agil auf einer imaginären Bühne. Auch dank der brillanten Klangtechnik (lediglich in Track 4 gibt es eine in der Höhe klirrende "Lady Billow" zu hören), erfährt das Geschehen eine ausgesprochen dynamische, konturenscharfe Umsetzung, die die fehlende Szene fast vergessen macht.
Während die männlichen Akteure mehrheitlich überzeugen, neigen die Damen mitunter zu einem vokalen "over-acting". Aber auch in Brittens Buffa-Oper gibt es überraschend leise, ja traurige Töne, so in der Klage über den vermeintlich "in the midth of Life" zu Tode gekommenen Albert (CD 2 / Track 20). Durch die ironische, überspannte Darbietung bleibt das psychologische Drama jedoch unterbelichtet, wird statt dessen zur überzogenen Farce. Andererseits besitzt Christopher Gillets Albert nicht nur jungenhaften Charme, sondern vermittelt im Monolog "Albert the Good" (CD 2, Track 11) glaubhaft etwas von der Wut und Verzweiflung des überbehüteten, entmündigten Kindes - dass Albert (man weiß es von Kunstfiguren wie Norman Bates und einigen anderen, höchst realen Zeitgenossen) auch ganz anders hätte "explodieren" können, läßt sich da wenigstens erahnen.

14 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

Inhalt | Impressum | News | Reviews | Leserbriefe
zur Homepage | eMail Abo bestellen | Download aktuelle Ausgabe