Béla Bartók (1881-1945): Herzog Blaubarts Burg. Oper in einem Akt
Cornelia Kallisch (Judith) - Péter Fried (Blaubart)
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Leitung: Peter Eötvös
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Das Märchen vom frauenmordenden Herzog Blaubart ist sehr alt und vielleicht sogar die früheste Erzählung um einen Serienmörder. Seit dem Mittalter kursiert sie in unterschiedlichen Versionen und hat nicht nur klassische Märchendichter wie den Franzosen Charles Perrault und den romantischen deutschen Schriftsteller Ludwig Tieck inspiriert, sondern auch diverse Komponisten, darunter so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Paul Dukas, Jacques Offenbach und eben den Ungarn Béla Bartok. Blaubart tötet seine Frauen, weil sie gegen sein ausdrückliches Verbot die Tür zu einer bestimmten Kammer des Schlosses geöffnet haben. Dort finden sie dann die Leichen ihrer Vorgängerinnen, bevor sie selbst zu
Opfern Blaubarts werden: ein grausiger Kreislauf von Liebe und Tod, von Dominanz und Unterwerfung, von Gehorsam und Verrat, von der Unmöglichkeit der Liebe von Mann und Frau.
Dabei schließt die eigentlich unpsychologische Bilder- und Symbolwelt des Märchens eine psychologische Deutung nicht aus. Auf diese Weise wenigstens hat der belgische Symbolist Maurice Maeterlinck das Märchen verstanden und damit die Vorlage für das Libretto von Bartóks einziger Oper geliefert. Aus Blaubarts Schloss mit den vielen Kammern wird dann sein Inneres, die Landschaft, ja der Körper seiner Seele. Bei dem Versuch, in diese innere Welt einzudringen und die verborgenen, erschreckend fremden Tiefenschichten
Blaubarts zu verstehen, müssen seine Frauen untergehen. Der Weg in Blaubarts Seele gerät ihnen zum Verlust der eigenen Identität und deckt die Fragilität, ja Unmöglichkeit einer vertrauensvollen, geglückten Beziehung auf, in der sich beide Partner gegenseitig "erlösen" könnten.
Der Komponist schuf das Werk vor dem Hintergrund eigener persönlicher und künstlerischer Krisen und Anfechtungen. So wurde "Blaubarts Burg" auch zu einem Psychogramm seiner selbst. Als unspielbar abgelehnt, kam das Werk gegen erhebliche Widerstände erst 1918, sieben Jahre nach seiner Entstehung, in Budapest zur Aufführung. Bartók vertonte den Einakter auf ungarisch, und zwar - darin Richard Wagner und Claude Debussy nicht unähnlich - in einer äußert sprachnahen Deklamation. Als gesungene Rede oder gesprochener Gesang ist dieser Text nicht Anlass für die Zurschaustellung belcantistischer Vokalkunst, sondern der Schlüssel für die phantastischen Klangräume und Ausdruckswelten der bartókschen Musik. "Herzog Blaubarts Burg" ist sinfonische Dichtung mit Gesang. Das Orchester - auch darin ähnelt Bartók Wagner - macht dabei das Unaussprechliche hörbar und das nicht Darstellbare - zumindest - fühlbar.
Mit Judith, Blaubarts vierter Frau, betreten wir in der Musik die Nachtwelten des Herzogs, die Labyrinthe seiner Seele. Wir können hören, erleben, imaginieren: das Grauen beim Anblick der Folterkammer, das Staunen und Erschrecken bei der blutbesudelten Waffenkammer, die kalt glitzernde Pracht der Schatzkammer, die wundersame Schönheit des geheimen Gartens, die überwältigende Herrlichkeit von Blaubarts Reich, das geheimnisvolle Wogen des Tränensees. Doch wessen Tränen sind dies? Blaubarts? Die der Vorgängerinnen? Mit Judith verlieren wir uns in Blaubarts abgründigen Rätselwelten, ängstigen uns vor ihm, zweifeln an seiner Liebe und wollen ihm doch das letzte, schrecklichste Geheimnis entreißen. Schließlich dann, in der siebten Kammer, begegnen uns die stummen Schatten der drei ersten Frauen Blaubarts. Sie sind untote Puppenexistenzen und ein Teil von Blaubarts innerer Welt - seiner Burg - geworden. Sie tragen die Gewänder des Morgens, des Mittags und des Abends. Wenn sich ihnen Judith
zugesellt, schließt sich der Kreis; sie, die eigentlich das Licht des Tages in die düstere Feste Blaubarts einlassen und seine Tränen trocknen wollte, teilt das Schicksal ihrer Vorgängerinnen und wird auf ewig zur Nachtprinzessin.
Dieser Live-Mitschnitt von Bartóks dramatischer Phantasmagorie unter Peter Eötvös ist ein weiteres Dokument aus den Archiven des SWR-Orchesters. Es hält leider nicht ganz, was der Titel der Reihe "Faszination Musik" verspricht, trotz der Qualitäten von Bartóks Komposition. Unter Eötvös' Leitung realisiert das Orchester die Synthese aus spätromantischer, suggestiver Sinnlichkeit, dissoznazgeschärftem Espressivo und den Finessen bartókscher Klangfarbenmusik allenfalls solide. Anders als z. B. unter dem Dirigat von Pierre Boulez (Sony 1976) wird die Partitur nicht kühl seziert. Mit andern Worten: Es interessiert weniger, wie die Musik gemacht ist (s. Boulez), sondern was die Musik aus den Figuren und mit dem Hörer macht. Trotzdem erwacht Blaubarts Seelen-Burg mit seinen unauslotbaren Räumen nicht zu einem wirklikch düster-bedrohlichen, atmosphärisch dichten Leben. Dafür ist auch das Klangbild zu kompakt, zu wenig durchhörbar. Es fehlt an wirklicher Zuspitzung und an instrumentalem
"finish", um das psychologische "Halo" um die Figuren ebenso wie die Schockmomente der Partitur nachdrücklich herauszubringen. So bleibt es bei dem Aufleuchten einiger orchestraler Eruptionen.
Bei den Sängern sticht vor allem die Judith der Cornelia Kallisch heraus. Ihr herber, mitunter auch scharfer, brustiger Mezzosopran ist allerdings eher zur verristrischen Exaltation denn zur lyrischen Hingabe fähig. Immerhin erlebt der Hörer hier keineswegs eine jungmädchenhaft naive, sondern reife, selbstbewußte und emotionale Frau: eine Persönlichkeit aus Fleisch und Blut. Genau dieses bewußte, fordernde Wesen wird Blaubarts Frau ja schließlich zum Verhängnis.
Im Vergleich mit der individuellen Charakterisierung der Judith wirkt Péter Frieds Blaubart, trotz dunkler Baritonfarbe, blass und unflexibel. Die ausladende vokale Geste ist seine Sache nicht, er singt vielmehr "nach innen". Wegen der mangelnden vokalen Präsenz bleibt der ambivalente Charakters des Herzogs unterbelichtet; auch verliert das Spiel um Dominanz und Unterwerfung an dramatischer Überzeugungskraft. Bestenfalls vermag man bei Blaubart Momente von Einsamkeit und Verschlossenheit auszumachen. Doch Blaubart ist ja nicht nur ein alt gewordener, müder Mann ohne Hoffnung, sondern auch ein attraktiver, absoluter Gewaltherrscher. Dass er aber die Judith der Kallisch bis zur Selbstaufgabe zu faszinieren oder zu beherrschen vermöchte, traut man Frieds wenig charismatischen Blaubart nicht zu.
So bleibt denn nur, neugierig Gewordene auf die Decca-Aufnahme von 1965 hinzuweisen, die klanglich bestens aufbereitet in der Reihe "Decca Legends" wiederveröffentlich worden ist. Was Christa Ludwig, Walter Berry und das London SO unter Istvan Kertesz inklusive der verantwortlichen Tontechniker hier leisten, ist schlichtweg eine ideale Realisierung von Bartóks Partitur: dramatisch und atmosphärisch dicht in der Auffassung, stimmlich vorzüglich und orchestral herrlich ausgehört.
12 von 20 Punkte
Georg Henkel