Am 22. Mai 2003 erhielt der Komponist Wolfgang Rihm (geb. 1952), der als
einer der bedeutendsten und meistgespielten Komponisten der
Gegenwart gilt, den mit 150000 Euro dotierten
Ernst-von-Siemens-Musikpreis bei einem Festakt im Münchener
Cuvilliéstheater. In der Begründung der Jury heißt es unter
anderem: Wolfgang Rihm ist einer der fruchtbarsten und vielseitigsten
Komponisten der Gegenwart. Mit unerschöpflicher Phantasie, vitaler
Schaffenslust und scharfer Selbstreflexion hat er ein an Facetten
reiches Œuvre geschaffen, das schon heute über vierhundert Kompositionen
aus allen musikalischen Gattungen umfasst. In Rihms Musik manifestiert
sich der Glaube an die unzerstörbare Existenz des schöpferischen
Individuums, das seine Kraft und Würde gegen alle äußeren Gefährdungen
zu behaupten vermag.
Der an der amerikanischen Harvard Universität tätige Musikwissenschaftler Reinhold
Brinkmann würdigte Rihm bei der Preisverleihung als einen "grossen
Künstler und fantasievollen Alleskönner". Rihm, so Brinkmann weiter,
das sei die grösste Erfolgsgeschichte seines Fachs seit dem Zweiten
Weltkrieg.
Rihm machte bereits als Zwanzigjähriger bei den Tagen Neuer Musik in
Donaueschigen durch eine ganz individuelle musikalische Sprache auf
sich aufmerksam, die die vorherrschenden Strömungen in Frage stellte
und auch zum Widerspruch herausforderte. Dass sich hier indes eine
außergewöhnliche Begabung vernehmen ließ, stand außer Frage. Mit seiner
subjektviven, emotional hochgespannten Musik stand Rihm quer zu der
seit den 50 Jahren maßgeblichen seriellen Schule, die das "Material" einer
Komposition durch die Festlegung bestimmter Reihen von
Tonhöhen, -dauern, dynamischen, klangfarblichen Werten etc. vorab genau
determinierte. Gegen die musikalische Abstraktion und die formale wie
technisch-logische Atomisierung der Musik setzte Rihm seinen
hochexpressiven, diskontinuierlichen und eruptiven Stil, der Musik
wieder als "direkte Rede" erfahrbar machen will. Mit Schlagworten
wie "Neue Einfachheit" ist dieser Ansatz jedoch nur unzureichend
charakterisiert. Denn nicht nur die Sprachlichkeit von
Musik wird hier restituiert, auch die konstruktiv gebundene, autonome
Komposition, die allerdings nicht mehr in den Netzwerken einer
vormusikalischen Doktrin oder technischer Verfahren gefangen gehalten
wird.
Rihms Musik zeichnet sich durch den Moment des Extremen aus. Die
orchestralen Entladungen in Orchesterwerken wie dem Tanztheaterstück
"Tutuguri" (1981) nehmen nicht selten gewalttätige, dämonisch-apokalyptische
Züge an, in denen die Musik - oder besser: die musikalische Gestalt bis
an den Rand der völligen Zersplitterung und Auflösung getrieben wird.
Doch selbst in diesen Grenzerkundungen lassen sich immer
wieder - auch von Rihm selbst bekräftigte - Traditionsbezüge
ausmachen: die freischweifende musikalische Phantasik des Romantikers
Robert Schumann, die experimentellen Werke des späten
Beethoven (z. B. das Streichquartett op. 130 mit der "Großen Fuge"), die
aggressiven, wild wuchernden Klangwelten eines Edgar Varèse (1883-1965)
und selbst der Farbzauber eines Claude Debussy mit seinem Sinn für
fließende, unscharfe Strukturen.
Zu Rihms Werken zählen zahlreiche Orchesterkompositionen (auch mit
Gesang und Soloinstrumenten), Opern (Faust und Yorick, Jakob Lenz,
Die Hamletmaschine, Oedipus, Die Eroberung von Mexiko), das Tanztheater
Tutuguri nach Artaud, Ensemblewerke, Streichquartette, Klavierstücke, Lieder.
Der Komponist, der auch ein höchst anregender Kommentator des eigenen
Schaffenprozesses ist, hält sich hingegen mit Aussagen über die
fertigen Werke zurück. Die Sprache der Musik lässt sich eben nicht
einfach in Worte rückübersetzen oder durch selbige einholen.
Aus dem Fragebogen der
"Neuen Musikzeitung" (http://www.nmz.de/nmz/nmz2001/nmz07/fragebogen.shtml):
Welche Musik macht Sie stark?
Die starke.
Bei welcher Musik werden Sie schwach?
Bei schwacher.
Bei welcher Musik stellen Sie sofort das Radio ab?
Bei schlechter.
Mit welcher Melodie sollte Ihr Handy klingeln?
Es vibriert.
[...]
Woran starb Mozart?
Wahrscheinlich an einem Fragebogen wie diesem.
Eine Anzahl von Kompositionen Rihms liegt auf CD vor; jüngste
empfehlenswerte Veröffentlichungen:
Tutuguri f. Orchester, Sprecher und Chor (SWR Faszination Musik / Hänssler Classics - http://www.haenssler-classsic.de)
[Cover Deus Passus] Passionsoraorium nach Lukas "Deus Passus" für Soli, Chor und Orchester (Live-Mitschnitt, Hänssler Classics)
Jagden und Formen für Orchester (DGG Edition 20/21 - http://www.deutschegrammophon.com/20.21/)
Georg Henkel