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Charlie Haden - Nocturne
(Universal)
Jazz
Die Songs verströmen traumhaft pulsierende Melodien und expressive
Abendklänge, die sich mit dem phosphoreszierenden Licht des
karibischen Meeres einherbewegen. Ein fast kammermusikalisches
Miteinander zwischen Ex-Ornette-Coleman-Bassist Charlie Haden, dem
kubanischen Klaviervirtuosen Gonzalo Rubalcaba und den zu dessen Band
gehörenden Ignacio Berrora (Schlagzeug, Percussion), gelegentlich
unterstützt von den beiden Tenorsaxofonisten Joe Lovano und David
Sánchez, Gitarrist Pat Metheny und Violinist Federico Britos Ruiz. Mit
Recht hat Tieftöner Haden seine neueste Produktion "Nocturne" genannt,
da es hier tatsächlich in durchweg allen Songs um Ausdrücke tiefster
musikalischer Seelenzustände geht: elf Kompositionen, zwei von Haden,
eine von Rubalcaba und acht weitere Aufnahmen aus der Fantasie
kubanischer, beziehungsweise mexikanischer Musiker.
Der Bolero verbreitete sich Anfang des 20. Jahrhunderts über den
ganzen südamerikanischen Subkontinent. Speziell auf der kubanischen
Zuckerrohrinsel formte sich diese originelle Balladenform aus
Versatzstücken des Blues, Folk, Country, Bebob und Free Jazz,
europäischer Klassik und afro-südamerikanischer Rhythmik. Man
stelle sich vor: wenn auf Kuba die Abendsonne ihre letzten
feurig-roten Strahlen über die Insel ausbreitet, dann entfaltet sich
in den halbdunklen Musikkneipen der Altstadt Havannas, in den Bars und
auf den Veranden, wo nächtliche Hitze schrille und kurzlebige
Lebenslust animiert, ein schwebend-unbestimmtes Lebensgefühl, aber
eben auch dies: eine romantische Atmosphäre voller Glücksgefühl,
durchwoben mit einem Anstrich erträglicher Melancholie.
In den "Nocturno"-Stücken gibt es offensichtlich keinen einzigen
redseligen Moment. Der kubanische Bolero benötigt keine imposanten
Portale. Seine Musik tritt mit dem ersten Takt auf, schaut sich um,
nimmt Platz - und schon hat sein eigenwilliges lyrisches Ich zu
erzählen begonnen.
Eben dieses von Zartkeit und exotisch-erotischem Raffinement
bestimmte Lebensgefühl, das bis heute unzählige Menschen in ihren Bann
schlägt, haben Charlie Haden und Gonzalo Rubalcaba mit ihren
kongenialen Mitspielern einmalig auf dieser CD einzufangen vermocht.
Ihnen gelingt es, in geradezu atemberaubender Art und Weise, diesen
eigenen musikalischen Bolero-Kosmos zum Klingen zu bringen:
schillernde Kostbarkeiten voller Wärme und Weite, dass es einem fast
den Atem verschlägt. Das Gesamtergebnis ist ein vom ersten bis letzten
Ton packendes Musikereignis.
Harry Seipolt
16 von 20 Punkten
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