Thunder
All The Right Noises
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Obwohl Thunder prinzipiell auf alle Fälle ins musikalische Beuteschema des Rezensenten passen, hat dieser sich nur sehr sporadisch mit dem Schaffen der Briten befaßt. Im durchgehörten Teil der hiesigen Tonträgerkollektion finden sich neben der 1999er Raritätencompilation The Rare, The Raw, And The Rest lediglich das 1990er Debüt Backstreet Symphony und das 2003 erschienene Comebackalbum nach einer temporären Auflösung der Combo, betitelt Shooting At The Sun und in der Zählung der regulären Studioalben Numero 6.
Nun also All The Right Noises, Album Nr. 14 – und es überrascht den Rezensenten gleich mit dem Opener „Last One To Turn Off The Lights“: Die flotte, mitreißende Hardrocknummer hätte problemlos auch schon vor drei Dekaden auf dem Debütalbum stehen können. Das spricht für eine zumindest latente stilistische Kontinuität, wobei der Rezensent aufgrund seiner erwähnten Sammlungslücken vor allem für die beiden letzten Dekaden nicht anhand eigener Hörerfahrung beurteilen kann, ob er hier zufällig ein „Back to the roots“-Werk nach gewissen stilistischen Abschweifungen erwischt hat oder ob Quasi-Alleinkomponist Luke Morley konsequent bei seinem Leisten geblieben ist und eventuelle abweichende Ideen eher auf seinen Quasi-Soloalben untergebracht hat, wenngleich auch dort Daniel Bowes am Mikrofon stand und das Projekt folglich unter Bowes & Morley firmierte.
Auf eine relativ breite Basis gestellt hatten Thunder ihren zwar typisch britischen, aber auch latent nach Amerika schielenden angebluesten Hardrock indes schon immer, und das tun sie auch auf All The Right Noises wieder, in verschiedene Richtungen allerdings. Der erwähnte Opener baut nicht nur weibliche Backings in den Refrain ein, sondern kommt auch noch mit einem flotten Bläsersatz um die Ecke, den gasthalber Andy Griffiths beigesteuert hat – und der Song bleibt nicht der einzige mit letztgenanntem Stilmittel, denn schon „Going To Sin City“ an Position 4 bringt es abermals zum Einsatz und hebt sich damit ein Stück weit von AC/DC ab, denn mit etwas anderem Gitarrensound und natürlich anderem Leadgesang hätte man durchaus momentweise an deren namensähnlichen Klassiker denken können. Aber so einen eigenartigen Baß-Ausklang des Hauptsolos hätten sich Malcolm und Angus vermutlich nicht zu schreiben getraut. Das vielschichtige „Destruction“ klingt weniger zerstörerisch, als es sein Titel und das noch alle Möglichkeiten offenlassende düstere Intro vermuten lassen könnten, während „The Smoking Gun“ ein wenig in die US-amerikanischen Südstaaten hinüberschielt, hackbrettartige Geräusche in den Hintergrund legt und trotz leicht angedüsterter Atmosphäre natürlich nicht richtig finster wird – Thunder sind eine grundsätzlich positive und lebensbejahende Band, was freilich die Behandlung ernster und kritischer Themen nicht ausschließt, wie abermals gleich der Opener deutlich macht, der sich mit den negativen Folgen des unbedachten Brexit auseinandersetzt. Neben knackigem Hardrock beherrscht Morley natürlich auch das ruhigere Fach, wie das entspannte und mit dezenten Streichern untermalte „I’ll Be The One“ unter Beweis stellt, das genau in der Mitte des Albums steht und wirkungsvoll mit dem davor plazierten, nach kurzer Anlaufzeit recht kernigen „Don’t Forget To Live Before You Die“ kontrastiert, das durchaus nicht der einzige Track ist, bei dem man irgendwie an das einzige gemeinsame Album von David Coverdale und Jimmy Page denkt, das natürlich in Stimme wie Gitarrensound völlig anders ausfällt, aber kompositorisch durchaus die eine oder andere Parallele zu Morleys Schaffen offenbart, was freilich nicht heißen soll, daß der Gitarrist und Chefdenker da irgendwie klauen würde – das besagte Album erschien 1993, und da hatten Thunder schon zwei Alben draußen und die Vorgängerband Terraplane auch schon zwei. Mit „Young Man“ folgt auf das erwähnte entspannte „I’ll Be The One“ abermals ein kerniger, wenn auch relativ schleppender Midtemporocker, bei dem man lange überlegt, ob der Backingeinwurf „Hey!“ bewußt leicht asynchron zum gleichlautenden Ausruf von Bowes plaziert wurde – und bei altgedienten Könnern wie Thunder liegt die Vermutung nicht fern, daß sie damit eine bestimmte Aussageabsicht verbanden. Die Gute-Laune-Nummer „You’re Gonna Be My Girl“, nur echt mit leicht slidig klingender Gitarre und unauffälligem, aber wirkungsvollem Honky-Tonk-Piano, wiederum hätte auch Aerosmith zu ihren besten Zeiten einfallen können, wobei die daraus vermutlich einen Riesenhit gemacht hätten, mit Liv-Tyler-Video und allem Drum und Dran – aber die Zeiten sind ja nun auch schon wieder ein Vierteljahrhundert vorbei. Immerhin, zu einer der drei Singleauskopplungen von All The Right Noises ist „You’re Gonna Be My Girl“ tatsächlich geworden, neben „Going To Sin City“ und „Last One Out Turn Off The Lights“, und ein Video gibt’s zu allen dreien jeweils auch. Wenn man Thunder etwas vorwerfen will, dann, daß sie Drummer Harry James nach dem mehrfach erwähnten Opener etwas zu sehr in den Laid-back-Modus schicken und unter den weiteren zehn Albumtracks kein weiterer Tempomacher mehr steht. Dafür hat „St. George’s Day“ halt andere Qualitäten: Der Name Jimmy Page ist ja oben schon gefallen, und hier verbeugen sich entweder Morley oder Zweitgitarrist Ben Matthews in ihrer jeweiligen Funktion als Teilzeitkeyboarder (oder aber Gastkeyboarder Sam Tanner) ganz tief vor „Kashmir“, wobei das Arrangement nach hinten heraus immer dichter wird. „Force Of Nature“ spielt, als der rockende Teil des Songs beginnt, rhythmisch mit verqueren Elementen diverser Nu-Rocker der US-Neunziger, und auch das wird kein Zufall sein, verarbeitet der Text doch Worte von Donald Trump über sich selbst und tut das ganz offensichtlich nicht in lobender Absicht. Mit „She’s A Millionaress“ steht noch einmal einer von diesen typischen Thunder-Midtemporockern am Ende der CD, vom weiblichen Backingchor im Refrain markant aufgepeppt und die Laune auch dann automatisch um 10 Grad steigernd, wenn man nicht ganz so viel Schotter auf dem Konto hat wie die im Text durchaus vielschichtig beschriebene Millionärin.
Die hier vorliegende Special Edition von All The Right Noises kommt als Doppel-CD daher, wobei der Bonusteil den Hauptteil an Länge übertrifft. Die elf regulären Studiosongs waren knapp vor Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggestellt, aber die Veröffentlichung verzögerte sich aus ebenjenem Grund, und da Morley offenbar sowieso permanent Songs schreibt, gingen Thunder einige Monate später nochmal ins Studio und spielten vier weitere Songs ein, wobei die Quellen differieren, um welches Studio es sich hier handelte. Der Grundsound von „Firebird“, „Hero“, „The Fires That Roar“ und „Pariah“ unterschiedet sich nur in Nuancen von den elf regulären Songs – aber die Zutatenliste ist hier, was die Gastbeiträge angeht, deutlich schmaler: keine Bläser, keine weiblichen Backings. „Firebird“ stellt einen abermaligen archetypischen Thunder-Rocker dar, „Hero“ setzt auf Akustikgitarren und ein munter im Hintergrund dahinklimperndes Piano, bleibt aber auch im typischen Midtempogestus, „The Fires That Roar“ wechselt wieder in kräftiges Riffing, koppelt dieses aber mit recht luftigen Klängen in Bridge und Refrain, wobei der Grund für die Luftigkeit unterschiedlich ist (in der Bridge der Rhythmus, im Refrain die sich aufschwingende Melodielinie), baut in Strophe 2 einen ungewöhnlichen Keyboardlauf ein und bricht im Solo mal ganz kurz in frenetische Arpeggien aus, verfolgt diese Linie aber nicht weiter. Das entrückte Solo am Beginn von „Pariah“ wiederum läßt noch alle Optionen offen, in welche Richtung sich der Song letztlich bewegt – Auflösung: Es wird wieder ein typischer schleppender Rocker. Also vergaß Morley auch in diesem Teil mal wieder, das Tempo wenigstens hier und da ein wenig nach oben zu ziehen und das dynamische Spektrum weiter zu vergrößern. Die „Kashmir“-ähnlichen Keyboardsounds fallen auch hier auf, auch wenn sie einen Deut anders klingen als in „St. George’s Day“ – dafür rückt vor allem die in Richtung Solo führende Gitarre aber noch ein Stück näher an Page.
Die anderen acht Songs stehen schon auf CD 1 – aber es gibt einen markanten Unterschied: Mitten in der Pandemie verbarrikadierte sich das Quintett noch einmal im gleichen Studio, wo schon die reguläre Platte eingespielt worden war, und zimmerte einen Teil der Songs, nämlich eben acht der elf, nochmal in einer „Live im Studio“-Variante ein. Die Band selbst zeigte sich überrascht, an wie vielen Stellschrauben sie nur ein reichliches Vierteljahr nach Abschluß der Aufnahmen schon wieder zu drehen geneigt war, wenngleich die Grundstrukturen der Songs im wesentlichen unangetastet blieben und man im völligen Gegensatz zu dieser Aussage eigentlich staunt, wie nahe Thunder mit der Studioaufnahme ihrem Livesound eigentlich gekommen sind (oder meinetwegen auch umgekehrt). Selbst die Backingsängerinnen waren mit am Start, wie gleich in „You’re Gonna Be My Girl“ deutlich wird – oder aber ihre Parts wurden eingesampelt, oder mindestens einer der vier Instrumentalisten kann genauso singen wie sie. Angesichts der Tatsache, daß „Last One Out Turn Off The Lights“ auch mit Bläsern ausstaffiert wurde, darf eine Einsamplung vermutet werden. Mit „The Smoking Gun“, „St. George’s Day“ und „Force Of Nature“ hat man vermutlich nicht ohne Absicht gerade solche Stücke weggelassen, die mit ungewöhnlichen Elementen spielen und daher vermutlich sowieso nicht in einer realen Konzertsituation dargeboten worden wären. „Destruction“ wurde allerdings mit einem kleinen Black-Sabbath-Touch versehen und schielt im ersten Teil des Solos nunmehr ein klein wenig hinüber zu „Heaven And Hell“, was man von Thunder auch nicht gerade vermutet hätte. Interessant ist hier allerdings generell der Ausbau der Solosektion, so daß diese Nummer zwei Minuten länger dauert als die Studiofassung und nunmehr an der Siebenminutengrenze kratzt. Auch die Millionärin hat fast eine Zusatzminute serviert bekommen, und so manche Nummer macht in dieser Fassung sogar noch etwas mehr Hörspaß als die hier und da vielleicht einen Deut zu kontrollierten originalen Studioaufnahmen. Der Rezensent hat Thunder bisher nie live erlebt und kann ihre Bühnenstärken daher nicht im Detail beurteilen, auch nicht anhand von Livealben (da ist Norbert anhand der frischen Höreindrücke von Live At Islington Academy und Live At Leeds“ im Vorteil) – aber daß Bowes in diesen acht Mitschnitten fast exakt so klingt wie in den originalen Aufnahmen, spricht dafür, daß die Briten trotz ihres vorgerückten Alters immer noch einiges Großes abzuliefern in der Lage sind. Und wenn sie ihren Schlagzeuger jetzt mal noch ein-, zweimal öfter von der Leine lassen, ist auch der Rezensent zufrieden. Derweil macht All The Right Noises soliden Hörspaß für Genrefreunde und solche, die es werden wollen, wenngleich als Einstiegsalbum in den Kosmos von Thunder dann vielleicht doch Backstreet Symphony die bessere Wahl darstellt. Auf das sehr eigentümliche Artwork, sowohl auf dem Cover (eine Klangskulptur, die in Großbritannien wirklich existiert – also keine Montage) als auch innen, sei abschließend verwiesen.
Roland Ludwig
Trackliste |
CD 1
1. Last One Out Turn Off The Lights (4:14)
2. Destruction (5:01)
3. The Smoking Gun (4:48)
4. Going To Sin City (3:56)
5. Don’t Forget To Live Before You Die (4:22)
6. I’ll Be The One (4:28)
7. Young Man (5:53)
8. You’re Gonna Be My Girl (4:12)
9. St. George’s Day (4:03)
10. Force Of Nature (4:06)
11. She’s A Millionairess (3:16)
CD 2
1. Firebird (4:13)
2. Hero (4:12)
3. The Fires That Roar (4:23)
4. Pariah (4:36)
5. You’re Gonna Be My Girl (Live Studio Recording) (4:25)
6. Destruction (Live Studio Recording) (6:59)
7. Last One Out Turn Off The Lights (Live Studio Recording) (4:25)
8. Don’t Forget To Live Before You Die (Live Studio Recording) (4:43)
9. Going To Sin City (Live Studio Recording) (4:25)
10. I’ll Be The One (Live Studio Recording) (4:35)
11. She’s A Millionairess (Live Studio Recording) (4:14)
12. Young Man (Live Studio Recording) (6:35) |
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Besetzung |
Daniel Bowes (Voc)
Luke Morley (Git, Keys)
Ben Matthews (Git, Keys)
Chris Childs (B)
Harry James (Dr)
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