Dream Theater
Awake Demos (1994)
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Nach dem unerwarteten Erfolg von Images And Words tourten Dream Theater um den Globus und nutzten die Gelegenheit, auch gleich ihr erstes Livealbum mitzuschneiden, und zwar im Marquee-Club in London – eine Wahl, die im nachhinein verwundern mag, da die Band in England nie richtig groß war, aber mit dem Kultfaktor des Clubs begründet wurde. Die Spannung war enorm, was die Formation dann als drittes Studioalbum abliefern würde – und Awake dürfte erstmal die Mitarbeiter der Plattenfirma überrascht haben: keine potentielle Single weit und breit in Sicht, von der Ballade „The Silent Man“ und dem melodicrockangehauchten „Innocence Faded“ mal abgesehen. Zwar hatten sich Dream Theater nie als Single-Band verstanden, aber was mit „Pull Me Under“ geklappt hatte, könnte ja auch nochmal klappen, wird man beim Label gehofft haben, obwohl gerade dieser Song nun alles andere als das gängige Single-Format bedient hatte und es auf Images And Words durchaus Kürzeres und Zugänglicheres gegeben hätte. Kürzeres gibt es auf Awake auch, Zugänglicheres freilich mit den beiden genannten Ausnahmen nicht: Dream Theater haben die Neunziger für sich entdeckt, agieren sperriger denn je und lassen John Petrucci phasenweise so heftige Riffs abfeuern und in derartigen Tiefen rumgeistern, dass man aus der Perspektive der beiden bisherigen Alben heraus erstmal ein wenig ungläubig dreinschaut; es ist das erste Album der Band, auf der der Gitarrist phasenweise zu einem Siebensaiter greift. Eingängige Refrains gibt es freilich immer noch, man muß nur ein wenig bis sehr viel länger auf sie warten.
Das, was im Rahmen der „Lost But Not Forgotten“-CD-Serie erstmals 2006 als Awake Demos (1994) erschienen und nun wiederveröffentlicht worden ist, könnte ungefähr dem entsprechen, was die Labelverantwortlichen im besagten Jahr 1994 als Konzept für das dritte Album zu hören bekamen, bereits mit allen Instrumenten und auch dem Leadgesang eingespielt, nur noch ohne Overdubs, einige der Backing Vocals und weitere Zutaten. Alle elf Songs, die letztlich auf dem Album landeten, sind hier schon zu hören – allerdings nicht in der letztlich gewählten Reihenfolge, und obwohl das Urteilsvermögen dahingehend etwas getrübt ist, da man das Album ja schon x-mal gehört und sich daher an die dortige Reihenfolge samt der entsprechenden internen Album-Dynamik gewöhnt hat, so könnte man auch bei größtmöglicher Objektivität zu dem Schluß kommen, dass die von wem auch angeregte Umstellung nutzbringend war. Die Demoversion eröffnet nämlich mit „Scarred“, einem relativ zerklüfteten Elfminüter, und der macht den Einstieg noch schwerer, als es das dann letztlich gewählte und nur halb so lange „6:00“ tut, das auf dem Demo an Position 2 steht und letztlich ganz nach vorn wanderte, gefolgt dann von „Caught In A Web“, einem der wenigen tatsächlich etwas eingängigeren Songs, auf dem Demo viertplaziert und schon hier den markanten Ethno-Drum-Part im hinteren Teil auffahrend, vielleicht sogar etwas prominenter als in der Albumfassung. „Scarred“ rückte auf dem Album dagegen auf Position 10 und bildete dort einen wirkungsvollen Klotz zwischen den ruhigeren „Lifting Shadows Off A Dream“, während das gleichfalls recht melodische und auf dem Demo dort befindliche „Innocence Faded“ trotz seines sehr dynamischen Finales in dieser Position dazu führte, dass das bisher recht harte Album in der Demofassung über fast 20 Minuten in gewisser Weise „ausplätschert“. Mit besagtem Song an Position 3 ist eine geschicktere Dynamikschichtung verbunden, denn danach kommt die riesige Trilogie „A Mind Beside Itself“, auf dem Demo (dort noch nicht als Trilogie, sondern nur als drei Einzeltracks betitelt, was auch auf der Inlaycard des Albums so ist – die Trilogiekonstruktion gibt es nur im Booklet, allerdings war sie Mike Portnoy zufolge bereits von Anfang an so angedacht) an Position 5 bis 7, auf dem Album letztlich auf 4 bis 6. Das Instrumental „Erotomania“, die fast zehnminütige klassische Progmetalabfahrt „Voices“ (was für ein Refrain!) und die nicht mal vierminütige Ballade „The Silent Man“ sind neben „Innocence Faded“ die Songs, die trotz gelegentlichen feisteren Riffings noch am ehesten an das Vorgängerwerk erinnern.
Die massivste Veränderung im Vergleich zwischen Demo und Album hat „The Mirror“ erfahren. Zum einen ist die Nummer von Position 3 auf 7 gewandert und bildet nun mit „Lie“ das knüppelharte Herzstück des Albums. In diesem Zug hat der Song allerdings auch ein Drittel seiner Länge eingebüßt – auf dem Demo noch ein Zehnminüter, bleibt die Albumversion unter sieben Minuten, aber beispielsweise der markante Themenvorgriff auf „Space-Dye Vest“ kurz nach Minute 5 ist erhalten geblieben und die Kürzung somit hauptsächlich im Finale erfolgt. Das aus Motiven der Urfassung von „The Mirror“ entwickelte „Lie“ wiederum hat anderthalb Minuten Länge dazugewonnen und ist spielzeittechnisch der größte „Profiteur“ der Albumaufnahmen. Wer im Gegensatz zum Rezensenten die Singleversion kennt (ja, der härteste Song der Scheibe, ausgestattet mit fast numetallischem Feeling, wurde als Single ausgekoppelt!), kann prüfen, ob ihre Struktur der kürzeren Demoversion entspricht oder anderweitige Umstellungen stattgefunden haben. Die Demofassung wirkt jedenfalls noch einmal reduzierter und damit roher als die Albumversion. Auf dem Demo stand die Nummer noch hinter „The Silent Man“, also der härteste Song nach dem ruhigsten – diese Konstellation reproduziert das Album nur partiell, da jetzt „The Mirror“ vor „Lie“ steht, aber auch diese ziemlich harte Nummer noch einen heftigen Kontrast zum nunmehr vor ihr befindlichen „The Silent Man“ bildet. Ob man den resultierenden dreizehnminütigen harten Block auf dem Album besser findet oder ihn lieber wie auf dem Demo verteilt sieht, dürfte letztlich Geschmackssache sein.
An einigen der Songs ist praktisch so gut wie nichts mehr verändert worden, neben „6:00“ und „The Silent Man“ auch „Innocence Faded“ und „Lifting Shadows Off A Dream“, letzteres perlend und bilderreich wie die surrealistischen Lyrics aus der Feder von Bassist John Myung, der im Intro markant in Szene tritt. Und auch das Finale „Space-Dye Vest“, zugleich das „Abschiedsgeschenk“ von Keyboarder Kevin Moore an seine Bald-Ex-Kollegen und von diesen 20 Jahre lang nie live gespielt, hat seine Struktur fast komplett behalten, ist aber auf dem Album gefühlt vor allem im Piano-Hauptthema einen Tick langsamer gespielt worden (nehme ein Metronom her und prüfe, wer denn eins hat) und gerät damit noch stimmungsvoller als auf dem Demo.
Soweit also die Theorie – die Praxis hatte sich freilich, was die Reihenfolge angeht, ein bißchen anders gestaltet, weiß der Besitzer der Erstveröffentlichung dieser Demo-CD auf Ytse Jam Records anno 2006, die im Booklet eine interessante Zeitreise ins Jahr 1994 unternimmt, während der aktuelle Re-Release diesbezüglich mit Informationen geizt. Die Reihenfolge des Demos bemißt sich nämlich schlicht und einfach aus derjenigen, in der die Songs im Februar, März und April in insgesamt drei Sessions als Demos eingespielt wurden – dass „Scarred“ am Anfang steht, beruht also einfach darauf, dass es der erste eingespielte Song der ersten Demosession war. Etwaige Dynamikoptionen haben bei der Bestückung der Demo-CD also keine Rolle gespielt, zumindest keine grundlegende. Und „Lie“ gab es zum Zeitpunkt, als „The Mirror“ ebenfalls in besagter erster Session eingespielt worden war, noch gar nicht, sondern es wurde erst danach aus Motiven des Schlußteils von „The Mirror“ heraus entwickelt. „Lie“ ist zudem der einzige Demosong mit anderem produktionstechnischem Hintergrund, nämlich eine Live-im-Proberaum-Aufnahme mit nachträglich darübergelegten Vocals, was angesichts des bei der Überarbeitung des Materials vor dem 2006er Release offenbar geschehenen klanglichen Angleichung an den Rest aber kaum auffällt.
Summa summarum hätte man die Demofassung freilich trotzdem auch als Album veröffentlichen können und wäre damit nicht schlecht gefahren – dass Awake dann noch einen Tick stärker und wie erwähnt logischer aufgebaut ausfallen würde, konnte man zu dem Zeitpunkt, da man als Verantwortlicher diese 77 Minuten Musik erstmals zu Gehör bekam, ja noch nicht ahnen. Gut, an die leicht blecherne Snare muß man sich gewöhnen, aber ansonsten klingt das Demo besser als so manches regulär veröffentlichte Album. Trotzdem bemißt sich in historischer Sicht der Wert dieser nun (erneut) zugänglichen Demofassung vor allem aus dem Vergleich mit dem Album (und der Möglichkeit, das entfallene Drittel von „The Mirror“ zu hören), und nach spätestens drei Durchläufen stellt man es wieder in den Schrank und legt wieder das Album auf. Aber diese drei Durchläufe sind allemal spannend.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Scarred | 11:16 |
2 | 6:00 | 5:31 |
3 | The Mirror | 10:13 |
4 | Caught In A Web | 5:44 |
5 | Erotomania | 6:33 |
6 | Voices | 9:31 |
7 | The Silent Man | 3:47 |
8 | Lie | 5:04 |
9 | Lifting Shadows Off A Dream | 6:07 |
10 | Innocence Faded | 5:44 |
11 | Space-Dye Vest | 7:19 |
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Besetzung |
James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Kevin Moore (Keys)
John Myung (B)
Mike Portnoy (Dr)
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