Diverse – Anonym (Livljanić, K. & Dialogos – Ćaleta, J. & Kantaduri)

Heretical Angels – Rituale aus dem mittelalterlichen Bosnien Herzegowina


Info
Musikrichtung: Mittelalter / Vokal

VÖ: 12.04.2024

(Arcana / Naxos / CD / DDD / 2023 / A560)

Gesamtspielzeit: 63:34



HÖLLENANGST UND HIMMELSTROST

Dem europäischen frühen Mittelalter war die Welt ein nicht geheuerer Ort, der mehr unter der Herrschaft des Teufels und seiner gefallenen Engel als unter dem Segen Gottes und dem Schutz der himmlischen Heerscharen stand. Ein strikter Dualismus schied zwischen den Mächten des Lichts und denen der Finsternis. Zwar war durch das Kreuzesopfer und die Auferstehung Jesu Christi der Kampf zwischen den beiden Mächten eigentlich zugunsten des Lichtes entschieden und die Welt damit grundsätzlich erlöst worden. Aber bis zu Christi endgültiger Wiederkehr wurde der Streit um die Seele jedes Menschen erneut ausgefochten.

In diese von Dämonen und Ängsten erfüllte Welt entführt einen das Album „Heretical Angels“, auf dem die Ensembles „Dialogos“ und „Kantaduri“ unter der Leitung von Katarina Livljanić und Joško Ćaleta entlegene Quellen aus der mittelalterlichen Balkan-Welt zum Klingen bringen: Man hört Worte und Musik aus dem dalmatischen Hinterland und der westlichen Herzegowina, die sich um eben jene Auseinandersetzung der göttlichen und dämonischen Mächte drehen. Die Menschen jener Zeit griffen zum Schutz von Leib, Leben und Seele auf christlich inspirierte Gebete und Beschwörungen zurück, bei denen freilich die Grenzen zwischen Glauben und Aberglauben fließend waren.

Gleich zu Beginn sorgt eine mit archaischer Wildheit vorgetragene enigmatische Grabinschrift für ein regelrechtes Schaudern: Das Vorzeichen vor dem, was folgt, ist damit allerdings unmissverständlich gesetzt, die Zeitreise kann beginnen. Bei dem auf dieser Aufnahme rezitierten „Vater unser“ könnte es sich auch um eine Zauberformel handeln. Das archaisierende Psalmodieren des „Chores“ sowie die Wiederholung von melodischen Phrasen und einzelnen Worten sorgen dafür, dass das in bosnischer Sprache vorgetragene Herrengebet sehr fern und fremd klingt. Das hat nichts mit modernen herzerwärmenden Vorstellungen von heilig, rein und fromm zu tun.

Fidel und Gusle (eine einsaitige gestrichene Laute, die traditionell Epoden vom Balkan begleitet) oder die Doppelflöte Dvojnice treten mit den obertonsatten Stimmen der Sängerinnen und Sänger in dramatische Dialoge. Da viele Quellen nur Spuren möglicher musikalischer Textgestaltung transportieren, haben sich die Ausführenden tief in die noch lebendigen oder überlieferten alten Gesangs- und Vortragstraditionen vertieft und diese auf das Material angewandt.
Bei aller Spekulation wirkt das Ergebnis doch sehr überzeugend: Die Beschwörung der himmlischen Mächte als Hilfe gegen den Teufel lassen sich damit ebenso eindringlich gestalten wie exorzistische Bannflüche, dialogische Szenen zwischen dem guten und dem bösen Engel, flehentliche Marienanrufungen, düstere Begräbnisgesänge oder Gebete zum Jüngsten Gericht.
Nichts, was himmlischen Trost spendet und zugleich höllische Angst macht, bleibt in dieser beeindruckenden Kollektion ausgespart. Die Hingabe und Intensität der Darbietung, bei der durch die Akustik des Aufnahmeortes noch zusätzliche Resonanzreserven mobilisiert werden, lässt an Suggestvitiät nichts zu wünschen übrig.

Vielleicht ist das eigentlich Beunruhigende an „Heretical Angels“, dass das archaische dualistische Weltbild, das auf diesem Album musikalisch beschworen wird, aktuell in modernen Inkarnationen aufersteht: Der Schlaf der Vernunft gebiert die Ungeheuer (Goya), und die Hölle, das sind immer die anderen (Sartre), nicht nur in der Religion.



Georg Henkel



Besetzung

„Dialogos“ & Katarina Livljanić, Leitung
„Kantaduri“ & Joško Ćaleta, Leitung



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